Ann.Jan.Fun.

Musik meiner Gedanken


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Krise

Klein und hilflos am Start. Die Charge der Neugeborenen stellt sich auf. Macht sich bereit für das Leben. Jedes Kind im Kosmos seiner Familie oder auch blutsfremder Bezugspersonen.

Und dann geht’s los. Chancengleichheit ist ein Euphemismus. Im Gegenteil: Unterschiedlicher als am Anfang können die Erfahrungen gar nicht sein: Der eine ist der sehnlichst herbeigewünschter Prinz, der das Lebenskonzept vervollständigt. Der andere ist da, obwohl nicht erwünscht. Die eine wächst auf inmitten tradierter Vorstellungen, die dem Main-Stream entgegenstehen. Die andere liegt modisch voll im Trend und bekommt jede Neuerung angeboten, die die Gesellschaft gerade entwickelt.

So krabbeln sie sich mehr oder weniger umsorgt durch die Kitas, die auch ganz unterschiedlichen Konzepten folgen können. Schulen folgen. Private, öffentliche. Weitere Weichen werden gestellt. Unschuldig folgen die Kinder den Weisungen der Eltern, Lehrer und Erzieher. Finden sich in Gruppen, Klassen oder Teams wieder. Bauen sich aus all diesen Bausteine ihre eigene Welt. Suchen sich im Planquadrat ihren Platz, der ihrem konstruierten Weltbild entspricht.

Leben diesen Platz. Verteidigen ihn. Es ist ihre Welt, das was sie kennengelernt haben. Ihre Identität. Ihre Heimat. Ihre Wurzeln und ihre Zukunft.

Die Basis. Der Habitus entwickelt sich. Gewohnheiten. Das Konstrukt von der Welt wird zur Weltanschauung. Gleich und gleich gesellt sich. Parallelwelten entstehen. Und noch ist die Welt in Ordnung, denn auch das Andere, das was außerhalb des Weltbildes, wird benannt. Und manchmal auch diffamiert oder bekämpft.

Und auch jetzt ist die Welt noch in Ordnung. Es gibt Freund und Feind. Gut und Böse. Richtig und Falsch.

Bis…

irgendein unvorhergesehenes Lebensereignis das Weltbild ins Wanken bringt. Eine Krise. In der Krise werden die Konstrukte kreativ geprüft. Identitäten werden infrage gestellt. Zusammenhänge anders gedeutet. Werte hinterfragt. Die Welt wird erschüttert, die eigene, selbst konstruierte.

Das ist das Wesen der Krise.

Es ist das Unvorhergesehene, das wie ein Meteorit in den eigenen Kosmos einschlägt und Kontinente untergehen lässt. Ein Inferno. Der Fixpunkt verliert seinen Halt, Pole verschieben sich; aus dem Wasser des Unterbewussten heben sich neue Erdschollen nach oben und bieten dem Überlebenden eine karge, unwirtliche Landschaft an.

Das ist das Ende der Krise.

Nun beginnt der kreative Teil, der bisher noch gar nicht gelebte. Der Teil, der ebenso wie das hervorgebrochene Land, aus einer Tiefe aufgestiegen ist, die bis dahin unbekannt war. Es gibt in diesem Moment keine Zeit, um über das Untergegangene zu trauern, denn das Leben strebt nach vorne. Bruchteile der vergangenen Zeit, die beziehungslos verstreut umherliegen, sind nur als Module verwertbar und nicht mehr in ihrer ursprünglichen Funktion.

Doch nicht jeder meistert die Krise. Für viele bleibt die Zeit danach eine gebrochene Realität. Zu fest ist der Glaube an die Sicherheit, die nun verloren ist. Es wird geleugnet, dass sich  auch die Sicherheit als unsicher erwiesen hat.

Gewinnen kann nur der, der Erinnerungen bewahrt und gleichzeitig bereit ist, das Neue zuzulassen. Nur der gewinnt, der aus der Krise mit einem erweiterten Verständnis für das Leben herausgeht. Das Verhaften im Alten oder auch das Herüberretten von alten Erwartungen in das veränderte Leben nehmen  die Chance für einen wirklichen Neubeginn.

Denn alles ist im Werden. Auch die eigene Identität.

 

 


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Es zeigt sich was

Da sitzen sie und fahren in der U-Bahn gepfercht durch dunkle Schächte. Da quillt die Masse über Ampelkreuzungen um sich geballt in die Kaufhäuser und Malls zu ergießen. Da staut sich Mensch an Mensch vor Eingängen oder in Blechhüllen auf der Autobahn. Da jubeln Zehntausende in Reih und Glied von Tribünen aus verschiedenen Spektakeln zu und Millionen von Sofas und Sesseln aus.

Wir sind ganz viele.

Eine eigenartige Spezies, die biologischen Rhythmen folgt und in dieser Lebensspanne tiefe Spuren im Gedächtnis der Erde hinterlässt. Nachhaltig und irreversibel.

In dieser großen Population lebt der Einzelne sein Leben, das vornehmlich sich selbst im Fokus hat. Der aktive Radius umfasst meistens die Familie, Freunde und Arbeit, doch dann wird es unüberschaubar. Dann werden es die Anderen, die Fremden, der Rest der Welt.
Obwohl vom Kollektiv bis ins eigene Unterbewusstsein geprägt, postuliert der Einzelne seine Individualität. Am besten mit dem Zusatz „authentisch“.

Wie kann das sein, dass derartige Gegensätze durch uns gelebt werden? Das Individuelle und das Kollektive?

Einerseits wird sich der Einzelne mehrdimensional und komplex seiner Selbst bewusst. Immer mehr Menschen erkennen, dass sie durch unhinterfragte Überzeugungen, die sich durch Tradition und Kultur in ihr Unterbewusstsein geschlichen haben, gesteuert werden und sie nur durch Achtsamkeit und Sensibilität zu einer reflektierten Lebenshaltung gelangen.

Andererseits  entsteht ein kollektives Bewusstsein für die globalen Zusammenhänge  auf ökologischer, ökonomischer und humanitärer Ebene. Das von C.G.Jung angenommene kollektive Unterbewusstsein wird von einem kollektiven Bewusstsein ergänzt, das die konkreten, globalen Vernetzungen öffentlich macht.

Es zeigt sich was.

 

 


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Warum wir schreiben

Schreiben ist das Notieren von Gedachtem. Eine Fixierung in einem etwas stabileren Medium als der Flüchtigkeit der Gedanken. Sozusagen das Verhindern des allzu schnellen Vergessens. Das ist sehr beachtlich, vor allem wenn man an die Schriften aus der Antike denkt, in denen die Gedanken der damaligen Menschen aufgezeichnet sind und wir sie heute lesen können.

Damals schrieben nur wenige Menschen. Heute haben Millionen einen eigenen Blog, in dem sie die Ergüsse ihres Gehirns in binärem Code verewigen.

Aber ist das so? Wollen wir uns mit dem Schreiben verewigen? Ist es nicht so, dass wir uns durch das Schreiben vernetzen,  inspirieren und kollektiv weiterentwickeln? Der gemeinsame Pool der Gedanken liegt wie ein Netz um die Erde. Jeder Gedanke – so weiß die Quantenphysik – beeinflusst die Welt.

Wir sind in einem Kulturzustand angekommen, in dem die Gedanken nicht nur face to face ausgetauscht werden, sondern wo jeder von seinem Platz aus sich in Diskussionen einschalten kann – ohne seinen physischen Standpunkt verändern zu müssen.

Darum ist das Schreiben wichtig, damit jeder seine Sicht der Dinge in das Kollektiv hineingibt, um sich rückwirkend wieder zu verändern. Wir brauchen also Schreiber und Leser. Wir zerdehnen die Kommunikation und schalten uns ein, wenn wir offen dafür sind.
Wir sind nämlich aller Unkenrufen zum Trotz durch das Internet individueller geworden wie keine Generation vor uns. Jeder kann sich über alles informieren und von allem berichten. Es gibt keine Zensur.

Und nun schreiben wir über das, was wir sehen und spüren. Um uns in diesem Dickicht der Einflüsse und Ideen nicht nur persönlich zu entwickeln, sondern auch um das, was diese Welt aus uns macht, den anderen mitzuteilen.
Weil wir staunend an einer Entwicklung teilhaben, die NICHT durch vorgegebene Ideen vorangetrieben wird, sondern weil wir an einer Entwicklung teilhaben, die uns gestaltend in das Weltgeschehen eingreifen lässt.

 


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Spätimplantat

Es ist Sonntag. Ein gewöhnlicher Sonntag ohne ein zu erwartendes Großereignis. Ein freier Tag, den ich aus freien Stücken im Internet und in den sozialen Netzwerken verbringe.

Ich bin kein Kind der Social-Network-Generation. Ich bin ein Spätimplantat. Darum gerate ich in andere Konflikte als die Generation, die mit diesen Dingen großgeworden ist. Nicht nur die Technik ist es, die ich nicht intuitiv beherrsche, sondern mir mühsam aneigne. Ich, die zur Generation Buch gehört.

Es ist auch der innere Konflikt mit meinen alten Gedankentraditionen. Bei einem Buch, das ich lese, verändert sich mein Gehirnstruktur, und kann ich an der Seitenzahl sehen, wie viel ich gelesen habe.

Im Internet, in dem sich meine Gehirnstruktur sogar wesentlich schneller verändert, da vieles interaktiv ist und mulitmodal, kann ich nicht erkennen, wie viel ich gelesen bzw allgemein gesprochen rezipiert habe.Da messe ich deswegen die Zeit. Ich habe nur das als messbares Instrument meiner Tätigkeit.

Und da ich gar nichts produziere – außer wenn ich tweete oder kommentiere – befällt mich Spätimplantat das unbehagliche Gefühl der Zeitverschwendung. Weil nichts sichtbar ist. Und doch ist meine Innenwelt bereicherter als zuvor. Sie hat etwas erlebt, das der gewöhnliche Sonntagmorgen sonst nicht hergeben würde.

Die Zeitverschwendung ist ein Relikt aus der Zeit, in der der Mensch nur nach seiner Produktivität beurteilt wurde. Sichtbar. Für jeden sichtbar. Und von jedem beurteilbar.

Aber das Surfen im Sozialen Netz ist eine unsichtbare Produktivität, die für niemanden ein Grund zur Beurteilung werden kann, weil ich allein den Nutzen daraus ziehe. Ich habe heute Gedichte gelesen, von Menschen, die mir ihr Inneres hier anbieten. Oder Fotos, die den Blick des Einzelnen allen zur Verfügung stellen. Ich habe kommentiert, was mir gefiel, obwohl niemand mich um die Meinung gefragt hat. Ich habe gechattet und kommuniziert.

Ich komme zu dem Schluss,  dass wir unsere Zeit nicht verschwenden können. Wir nutzen sie, um uns zu erfahren. Im realen Leben und im  virtuellen sozialen Netzwerk. Auch als Spätimplantat.

 


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Zwischen den Tönen

Der Permanent-Stream der Lebensäußerungen anderer
legt einen schillernden Klangteppich um mich herum.
Schneller Cut, Gesprächsfetzen, Musik,
Geräusche der U-Bahn, Handys klingen, pfeifen, fiepen, rappen.
Das Telefongespräch des Nachbars wird zu meinem.
Im taoistischen No-Reaction nehme ich nur wahr;
nichts ist da, was mich zur Handlung antreibt.

Aus mir selbst steigen Bedürfnisse auf, die archaischen,
Hunger, Durst, Schutz, Sex.
Gedanken an Meetings und To-dos,
Emotionen, dates, Wellness.

In meinem Hirn kommen Tausende elektrische Impulse an,
die zu deuten mir nicht obliegt,
denn davor sind neuronale Bahnen geschaltet,
die nicht nachvollziehbaren Algorhythmen folgen.

Und dann das:
Zwischen den Geräuschen im Innen und Außen
verharrt für einen Moment die Zeit.
Ich höre einen Ton zwischen den Tönen,
der anders als der Live-Stream einen stummen Klang hat.

Er irritiert, relativiert das Treiben um mich herum
Ein flüchtiger Moment.
Es war still.


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Inferno

Von weitem sieht es aus wie ein friedliches Südseeparadies. Blaugrünes Wasser, kleine Basthütten, ein entspanntes Inselvolk. Doch beim näheren Hinsehen entdeckst du kleine Reihenhäuser, kurz geschnittene Rasenflächen und ein Volk von braven Bürgern. Nichts trübt die Idylle, selbst der Müll ist an seinem Platz und farblich sortiert.

Kultiviert, diszipliniert, gefühlsmäßig glatt rasiert marschiert dieses Volk durch die perfekte Welt. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, keine Wolke trübt den Anblick. Sie lachen, freuen sich an ihrem Wohlstand und erziehen sich und ihre Kinder zu braven Bürgern.
Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen. Das ist die Devise. Und so kommen nur die guten, hellen, freundlichen, positiven Gefühle auf den Tisch und die dunklen, schrägen, negativen werden geschluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation.
Normalität des bürgerlichen Alltags. Sie singen es, sie lehren es, sie leben es: Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen.
Was schlecht ist, weiß jedes Kind: Aggression, Verweigerung, Ablehnung, Hass, Lüge und Gewalt. Gut ist, was konform ist. Was weiterbringt. Was alle gut finden.

Und so lebt das kleine Volk in seiner scheinbaren Südseeidylle. Beneidenswert diese Sonne und dieses Strahlen. Dieser Friede und diese Harmonie. Dieser Wohlstand und dieses Wohlergehen. Sie lachen und tanzen. Es geht ihnen gut.

Tief im Meer gähnt ein tiefer Abgrund, der all das schluckt, was ins Kröpfchen kommt. Angefüllt ist er mit stinkender, gärender Masse. Er schluckt und schluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation. Die Miasmen eines ganzen Volkes sind in seinem weiten Maul gesammelt, nicht verdaut nur verwahrt. Ein Silo. Eine Grube. Kloake. Täglich wird es mehr und der Abgrund schluckt das Abgründige.

Sie ist jung und hübsch, schluckt brav die Abgründe hinab, die schlechten Gefühle. Das Non-Konforme. Das Ungeliebte. Das Schlecht-Gefühlte.
Sie würgt all das aus ihr Aufsteigende hinunter. Würgt den Hass, die Scham, die Lüge, den Zweifel hinab in das Dunkle, das irgendwo ist, das alles aufnimmt, das nicht gewollt, nicht gewünscht ist. Schluckt wie alle anderen. Lacht das wenige Glück dafür umso lauter hinaus. Ist ein glückliches Inselkind inmitten des eigenen Volkes von Armen-Schluckern und Besser-Essern.

Sie hört das Grollen zuerst, spürt wie das Meer sich zurückzieht, sieht in der Ferne zuerst einen tiefen Abgrund und dann ohnmächtig zu, wie dieser Abgrund das Meer frisst und die Luft darüber und die Zeit, die einfach stehen bleibt.
Das Inselleben geht weiter, lachend und wohlgesittet; niemand sieht das Meer schwinden und den Abgrund gähnen.

Sie steht am Strand. Sieht die Wand aus dem Abgrund aufsteigen, der ohne Ende zu sein scheint. Glatt kommt die Wand näher, türmt alles Abgründige über sich auf. Bedrohlich, wütend, mit nur einem Ziel: Das Festland zu überrollen mit seiner Anwesenheit und seiner Gewalt.

Und so tut es die Wand. Spült den Abschaum über das Inselvolk, speit die Miasmen aus, gischt das Schlechte und Bedrohliche hoch auf, knallt die minderen, verdrängten Gefühle auf die kleine Inselstadt. Tobt, zerschlägt das Gute, zerreißt das Edle, zerstampft die geliebte Ordnung. Zerfetzt die Illusionen. Zerbricht den Frieden. Wütet wild. Zeigt seine geballte Macht und Kraft. Wogt durch idyllische Straßen, zermahlt die Häuser, tötet das Volk, das das Abgründige verbannt hat.

Sie steht am Rand. Fassungslos. Es ist alles weg. Niemand mehr da. Kein Haus, kein Weg, kein Baum, kein Mensch. Nur sie. Allein.
Sie wartet das Tosen ab, den Sturm, das Töten. Dann ist es ruhig. Und friedlich. Wie noch nie.
Es ist nichts mehr da.

Alles, was jemals Wert gehabt hat, ist verschwunden. Nichts bleibt. Nichts. Nichts, an dem die Erinnerung könnte hängen bleiben. Kein bisschen von der alten Ordnung. Es gibt keine Ordnung. Keine vertraute zumindest. Was sie sieht, ist Chaos, eine ungeordnete Ordnung.
Wer ist sie ohne diese Ordnung? Wo sind die Geländer der Zivilisation? Wo die ehrwürdigen Devisen? Was ist ihr geblieben?

Das Schlechte hat sich über alles ergossen, lacht und kichert aus den Winkeln, grinst und feixt sie an. Fremd. Unheimlich. Eine neue Realität. Eine verdammte Realität hat sich aus dem Abgrund aufgemacht in ihr Leben. Das alte Leben ist verschwunden und sie ist allein mit dieser brutalen, gefährlichen Wirklichkeit, vor der man sie immer gewarnt hat. Die sie heruntergeschluckt hat und nie angesehen.

Nun glotzt von jedem Stein und jedem Baum das Schlechte sie an, das Tier, das gebunden gewesen war. Sie ist allein mit dieser Katastrophe. Das Gute ist verschwunden, verschluckt, wie einst das Schlechte. Nun ist das Schlechte sichtbar und ist das einzige, das sie ins Töpfchen legen kann – wenn sie es denn will oder vielleicht nun muss.

Die Welt hat sich verdreht. Dieses Böse ist nun da. Das Verdammte hat sich erhoben und das Gute und Glatte hinweggefegt. Wer wird sie sein, wenn sie nun davon isst? Von dieser Speise, die ihr die Natur nun anbietet, vor der man sie immer gewarnt hat? Soll sie verhungern? Edel und gut. Oder von diesen Schweinetrögen essen und überleben, rau und roh wie ein Tier?
Nicht nur eine Welt ist zerstört: Ihre Gute und Edle, sondern nun wird auch das Böse zu etwas Gutem, weil es sie überleben lässt, wenn sie von ihm isst.

In diesem Inferno von Kräften und Werten, von Gut und Böse, von edel und wertlos atmet sie ein, was ihr die Welt bietet. Isst verbotene Früchte, lacht über das Niedere, weil es das einzige ist, das ihr noch Anlass gibt. Hasst aus tiefstem Herzen diesen Abgrund und liebt ihn dennoch, weil er sie am Leben gelassen hat.

Sie ist die einzige Zeugin von der guten alten Zeit und auch von der Zeit, in der das Abgründige nun seinen Platz hat. Sie schreit ihren Hass und ihre Verachtung heraus, schluckt ihn nicht weiter hinunter, schreit so lange und laut, bis kein Hass mehr in ihr ist, nur noch die Liebe für das Glück und das Schöne.

Und legt sich eine Schicht Dunkelheit über diese zarte Liebe zum Leben, dann kämpft sie wie eine Löwin darum, dass sich das Dunkle wieder in seine Dunkelheit zurückzieht. Kämpft den Kampf der Menschheit. Den jahrtausendalten Kampf gegen das eigene Dunkel. Schreit dem Licht den Weg frei, der Liebe in ihrem Herzen.

In diesem Kampf erstarkt ihr Herz; liebt sie leidenschaftlich und intensiv. Die Liebe, die ihr nichts und niemand entreißen darf, macht sie zu einer Löwin, die sich mutig vor jedes dunkle Gefühl stellt. Und manchmal verwandelt sie etwas Dunkles in etwas Helles. Erlöst das Dunkle aus dem Abgrund, den sie selbst wieder und wieder füllt – was sie nicht will, denn sie weiß von der Macht des Abgrunds.

Sie will den Bann lösen, der über dem Hass liegt, der unverstandenen Liebe. Kämpft gegen die Leere des Lebens mit ihrem Herzen, mit dem Lachen aus den Vorratskammern ihres tiefsten Wesens, das nach Licht strebt, nach Glück und Vollkommenheit.

Sie kämpft den Kampf der Liebe, verwandelt das Dunkle, erhebt das Schwarze ins Licht, geht den Weg, der das Finstre akzeptiert, mit Liebe umfängt und hinauftransponiert in Helligkeit und Glück.
Und dennoch, aus dem Abgrund der Natur steigen Tag für Tag und Nacht für Nacht die unterdrückten Gefühle einer verblendeten Menschheit hinauf, die vermessen geglaubt hat, dass durch Ignoranz und Knechtschaft das Gute über die Menschheit käme.

Sie steht dort mit dem kleinen Schwert ihrer Liebe und berührt damit die kleinen Pflanzen, die aus ihrem eigenen dunklen Abgrund wachsen. Küsst sie und reinigt sie von dem harschen Urteil, das aus ihnen eine Monsterpflanzen macht. Pflegt sie und gewinnt Vorteil aus der Art der Pflanzen zu sein. Nutzt deren Stärke und Kraft, bindet sie ein in ihren Kampf gegen Wertung und Urteil, die den Abgrund erst möglich gemacht haben.


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Kraft

Bevor der Samen in der kargen Erde Fuß fassen konnte, war er schon zertreten; zerquetscht unter einem unbeachteten Schritt in schweren Schuhen.

Das Innere, der zarte, nach Wasser durstende Teil, wurde verformt und bereits mit einer Narbe versehen, bevor der erste Wassertropfen durch die zerstörte Schale zu ihm drang.
Der Keim trank das schmutzige Wasser, das ungefiltert in ihn eindrang und verspürte wohliges Erwachen in sich. Trotz allem. Denn er war ein Keim und zum Wachsen bestimmt.

Es entfächerte sich ein kleines Blatt, das – etwas zu früh für diese Jahreszeit – durch die zerbrochene Schale drängte. Ein rauer Wind umfing ihn, doch das Blatt drängte zur Sonne, denn dafür war es geschaffen.
Ein später Schneefall drückte die kleine Pflanze hart auf die Erde zurück, ließ sie erschauern und ermatten; presste das Leben fast aus ihr heraus und schon ein wenig welken, bevor der erste warme Tag seine Mitgenossen frisch und munter aus der Erde sprießen ließ.

Da lag sie und wurde vom warmen Wetter wieder lebendig und richtete sich auf. Sie bekam eine Knospe, die – ein wenig trostlos zwischen all den bunten Blumen um sie herum – verschlossen blieb.
Den ganzen Sommer blieb sie verschlossen und schaukelte im Wind. Es wuchsen der Pflanze neue Blätter, kräftigere. Auch der Stängel erholte sich und entwickelte sich zu einem robusten Rohr, durch das die kleinen Wurzeln im Erdreich ihren Saft drückten.
Der Sommer verschwand und die Blumen um sie herum verteilten ihren Samen verschwenderisch in den Wind. Nur sie blieb verschlossen. Als einzige.

Dann kam der Tag, an dem sie eine merkwürdige Veränderung bemerkte: Ihr Kopf wuchs. Die schaukelnde kleine Knospe wurde prall und praller und richtete sich auf. Tag für Tag streckten sich die Knospenblätter mehr und mehr, um diesem Wesen in ihrer Mitte, Schutz und Raum zu geben. Eine unbändige Energie durchfloss die Knospe, die nichts anders tat als zu wachsen; denn dafür war sie da.

Und dann! An einem herbstlichen Tag in der Frühe, hielten die Knospenblätter den inneren Druck nicht mehr aus und wichen  zur Seite. Eine farbenfrohe Pracht quoll aus dem schützenden Blattwerk, wuchs in die Breite und in die Höhe ungeachtet der Zeit und des Raumes, in dem sie sich befand. Sie wuchs und wuchs, legte Blütenblatt um Blütenblatt der tiefstehenden Sonne zu Füßen, schaukelte im Wind und fing die letzten hungrigen Bienen ein. Eine Explosion aus Duft und Farben, Leuchtkraft und Freude entsprangen der riesigen Knospe. Sie strahlte und lachte dem Glück der Blüte entgegen. Unbändig war die Kraft, die keinem anderen Ziel zustrebte als zu sein.

Wochenlang öffnete sich die Blüte Morgen um Morgen und verschloss sich beim ersten kühlen Abendwind. Sie war die letzte auf dem Feld und verteilte – Wochen danach – in einer späten Stunde mit einer großzügigen Geste ihren Samen. Denn sie war eine Blüte und geschaffen, um zu verschwenden.

Ein harter Sturm entriss ihr kurze Zeit später alle Blätter, kalter Regen drückte sie nieder, der Stängel brach. Ihr Tod wich einem großen weißen Frieden.


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Lawine

Der Stein kam vor vielen Jahren ins Rollen,
in einem unbedeutendem Moment.
Er riss einen zweiten mit und einen dritten;
Zusammen waren sie eine Lawine.
Die begrub das frische Land unter ihrer grauen Substanz,
zerstörte Flora und Fauna.
Und niemand erinnerte sich an das Grün.
Nicht lange danach wucherten Disteln auf dem Schutt
Und kleine Wühlmäuse durchgruben das Geröll.
Der Wind brachte Samen mit, die Wolken Wasser.
Natur kehrte zurück, heilte die Wunden der Zeit.
Ein Kind fand einen wunderschönen Stein und nahm ihn mit.


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Die Illusion der Mitte oder Warum ich nirgendwo zuhause bin.

Goran, Feinmechaniker der Feinfrequenztechnologie, tunte die etwas aus dem Normmaß geratene Frequenz wieder auf das durchschnittliche Maß. Das war sein Job. Zu weit vom Themengebiet abweichende Frequenzen hatte er so zu justieren, dass sie wieder als klares Thema erkennbar war. Es waren die Vermischungen von mehreren Frequenzen, die immer wieder diese Artefakte auslösten.
Schließlich wollten die Leute klare Gefühle. Trauer musste als Trauer erkennbar sein. Freude als Freude, Neid als Neid und so weiter. Es gab zwar Überschneidungen zum Beispiel Freude und Mitleiden oder Schmerz und Freude, aber das lag am frei wählbaren Programm. Man konnte bis zu vier Emotionen gleichzeitig herunterladen, ohne dass ein Gefühl dabei unterging. Aber vier war die absolute Obergrenze.
Zum Beispiel war die Kombination von Liebe, Eifersucht, Nörgelei und Versöhnungsepos sehr beliebt. Oder die Kombination von Workaholic, Freude, Wichtigtuerei und Depression. Allein mit vier Optionen konnten sich Menschen für Wochen versorgen. Gerne wurden dann die einzelnen Gefühle hintereinander geschaltet, um dann final zu einem  Crescendo anzuschwellen und in ein emotionales Chaos zu stürzen. Emotionales Chaos war dann aber bereits eine neue Gefühlsbatterie, die auch gerne zu Weihnachten oder Silvester genommen wurden. Dann in Kombination mit Friedenswilligkeit, Familiennestwärme und Heile Welt.

„Mensch, ist die Welt voll Scheiße!“, knallte er seinen Handschuh auf den Tisch. „Voll abgefahren, diese Kacke aus Gefühlen. Kann man den nie seine Ruhe haben, Alter?“ Er schaute Tamira aus einer Mischung von Aggression, Langeweile, Überdruss und Enttäuschung an. Diese Mischung hatte er sich aus dem Netz runtergeladen.
„Baby, nimm dir ne Battery Chill out. Hab ich mir auch gerade reingezogen. Cooler Mix aus Easy-going, Gut-drauf, alles–ist-gut-so und Joker.“ Sie reichte ihm das Päckchen und hielt es ihm offen hin. Er zögerte und ranzte. „Watt soll der Scheiß?“, griff aber trotzdem hinein und riss die Verpackung vom obersten Tütchen ab.
Wie auf allen Anleitungen geschrieben steckte er zuerst seine Nase hinein und sog fest an dem feinen Duft, der ihn sofort in die Welt von Sommer, Sonne und hellem Licht zog. Dann hörte er den Ton, besser gesagt die vier Frequenzen, die das Chill-Out-Päckchen ausmachten. Sie waren kaum zu hören, diese Töne, aber sie wirkten auf ihn sofort. Er spürte, wie er an den angeforderten Gefühle andockte und von den vorherigen Frequenzen runterkam.
So war das immer. Das aktuellste Gefühl, war das dominante. „Hey, Tamira, schön dich hier zu haben. Ist ja gleich Feierabend!“, bemerkte er mit dem Blick auf die Uhr. Ja, Chill-out war ein gutes Päckchen.

Er stand auf und bewegte sich ins Lager. Computergesteuerte Greifarme beherrschten die Logistik. Milliarden Päckchen wurden täglich verschickt. Die Leute konnten ohne sie nicht leben. Irgendeine Frequenz war immer gefragt. Ohne ging gar nicht. Die Päckchen hatten den Vorteil, dass sie unabhängig vom Smartphone konsumiert werden konnten. Zum Beispiel – was selten vorkam – in Gegenden ohne guten Empfang. Oder man verschenkte sie oder legte sich Vorräte in die Schulblade. Immer das passende Päckchen zuhaben, bedeutete, die Kontrolle über die Emotionen zu haben.
Päckchen waren auch hochwertiger als die Emotion-To-Go-Päckchen vom Smartphone. Die hohen Frequenzen waren das Problem und ebenso der feine Duft. Ja, besonders der Duft konnte von den Herstellern nicht genau dosiert werden. Die Emotionen waren danach immer etwas trüber als in der Wirklichkeit mit den Päckchen.
Nur zu Großereignissen, wie Weihnachten, Fußball-WM, Kollektive Katastrophen-Erlebnisse wurde die Qualität besser. Dann brauchten die Anbieter nur einen Duftstoff freizugeben, so dass es einfacher wurde, die gute Qualität von Gefühlen zu behalten. Siegestaumel war während der Weltmeisterschaften der Renner, aber auch kollektives Weinen. Das war aber immer gekoppelt mit der passenden Portion Hoffnung, Kampfgeist und starkes-Ego. Zu hohe Dosen von einem Gefühl – so hatte man herausgefunden – waren im Nachhinein schwerer zu neutralisieren.
Zum Glück hatte man noch nicht von dem Ernstfall Gebrauch machen müssen. Die geheime Superwaffe waren Frequenzen über alle Sendemasten und gestreute Düfte von Helikoptern. Diese Maßnahme waren streng geheim und nur dem Militär vorbehalten. Sie galten als hochsensibel, beinhalteten sie doch Emotionen wie Kollektiver Kampfgeist, kollektives Schweigen und kollektive Tatenlosigkeit.

„Ich mach für heute Schluss, Baby!“, rief er Tamira zu und verließ das Labor. Draußen fegte ein rauer Wind. Naja, das Wetter hatten sie noch nicht im Griff. Aber es war egal. Mit dem Chil-out-Päckchen ließ sich jedes Wetter ertragen.
Er ging einkaufen. Etwas planlos, ja lustlos. – Die Wirkung ließ nach und er suchte auf dem Smartphone nach einer passenderen Emo. Ja, die war gut: home-action. Er tippte den Code und hielt die Nase an die kleine Düse. Home-action. Home-action begann er leise zu summen. – Auf der gleichen Frequenz, die fast unmerklich aus seinem Smartphone aufstieg. Jepp, das war gut!
Er schob den Einkaufswagen geschickt durch die Warentürme und legte wohlbewusst seine Vorräte in den Wagen. Es sollte etwas Gutes geben. Heute vegan und indisch. Dann dachte er noch an die Scheuermilch, an den Entkalker und sogar an Blumen.
Neben ihm schob eine ältere Frau ihren Wagen an seinem vorbei. Auch sie trällerte auf seiner Frequenz. „Schöne Blumen! Haben Sie auch an den Schnittblumendünger gedacht?“ Er bedankte sich und schob den Wagen in Richtung Blumenpflegemittel.
Dort saß ein Mann mit einem Rollstuhl und mühte sich mit der Tastatur seines Smartphones ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Wahrscheinlich war er schon zu lange ohne Emotions unterwegs. Goran schaute ihm zu. Keine Mimik verriet, was in dem Mann vorging. Er sah aus wie versteinert. Goran kannte die Symptome: Der Mann stand kurz vor dem emotionalen Kollaps. Es war seine Pflicht, ihm zu helfen.
Er wühlte in seiner Tasche. Dor fand er ein Päckchen Pack-es-an!. Er riss das Siegel ab und hielt dem Mann die Tüte unter die Nase. Es dauerte keine Sekunde. „Hey, junger Mann, geben Sie mir bitte die grüne Flache von da oben! Ja, danke. Und lassen Sie mich jetzt bitte hier vorbei, ich hab es eilig.“ Er rangierte den Rollstuhl an ihm vorbei und grüßte mit einem energischen Blick und mit der Hand an einer vermeintlichen Hutkrempe. Ja, Pack-es-an! machte energisch, tatkräftig, und zielorientiert.

Dann sah er sie. Wunderhübsch, große Augen, sanfter Blick. Sein Typ. Er änderte seinen Code und nahm die Mischung first-love. Bereits beim Duft fühlte er sich leicht und beschwingt, die Frequenz brachte ihn dann auf das angestrebte Level. Ein wenig scheu, verlegen, etwas fordernd, ganz natürlich. Das zog immer. Die anderen Love-Mischungen hob er sich für später auf.
Der unbeabsichtigt, absichtliche Rempler, die kullernden Tomaten aus der Tüte, ihr erschrockener Blick, sein jungenhaftes Lächeln. Er fühlte die Woge der Mischung, hatte keine Schwierigkeiten das erste Wort zu finden, dann kam die Frage mit dem Kaffee-trinken und ja, ob sie nicht 36 54 drauf hätte……Der Code, der junge Mädchen mutig machte.
Die meisten Mädchen machten an diesem Punkt noch mit. Diese hier aber schaute ihn aus  großen Rehaugen an und wandte sich von ihm ab. Er tankte schnell 25 67, die Battery, die er gerne beim Sport nahm: Ausdauer, Kampfgeist, Gewinnerzuversicht und Zielorientiertheit und lief ihr nach.
„Hey, du! Warte mal!“ Er holte zu ihr auf. „Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu hier?“
Wieder ein Blick aus tiefen Rehaugen. Sie wirkte belustigt, wach, ruhig und ernst. Eine Mischung, die es als Battery so nicht gab. Vielleicht hatte sie eine unbekannte Quelle. Er schlug ihr vor, 35 46 zu probieren. Stimmung für leichten Anfang. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Ich bin zu Besuch.“, überraschte sie ihn. Zu Besuch. Wer kam noch zu Besuch? Sie hatten doch alle ihren Platz gefunden? Kommunikation lief über skype, seit Jahren schon, Gemeinsamkeit entstand durch die Global-batterys. Besuche waren überflüssig geworden. Niemand hatte ein zuhause, das andere einlud. Es nicht notwendig, in anderen Räumen zu sein. Trotzdem hatten sie alle viel Spaß miteinander. Vor allem wenn man vor einer Skypesitzung die 54 78 nahm.
Er begleitete sie ein Stück. „Bei wem bist du zu Besuch?“ „Bei euch.“, sagte sie ruhig. „Ich bin auch schon da.“ Sie zeigte auf ein Hotel, das normalerweise Politikern diente, wenn sie Liveauftritte inszenierten.
„Bist du Politikerin?“, fragte er forsch. – 25 67 wirkte noch. Er klickte auf repeat und spürte die gleiche Frequenz nun noch intensiver. Hier war etwas, was es zu entdecken gab. „Nein, ich bin eine Unabhängige.“
„Wow!“ Damit hatte er nicht gerechnet. Unabhängige kannte er nur aus Filmen. Sie waren geheimnisvoll. Er hatte nicht geglaubt, dass es sie in echt gab. Er machte eine Schritt zurück, klickte mechanisch auf check-the-mood (Ratio einschalten, Röntgenblick, Pokerface, Unerschütterlichkeit) und inhalierte kurz.
„Eine Unabhängige! Aha. Und was machst du hier?“
„Im Moment schau ich dir auf chek-the-mood zu. Eben war die 25 67 und davor warst du auf first-love.“ Er schluckte. War das hier ein Artefakt? Er ließ sich seine Unsicherheit nicht ansehen. Klar. Pokerface wirkte.
„Komm, ich zeig dir was!“ sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Hotel hinein. Sie gingen auf ihr Zimmer. In einem unauffälligen Moment tippte er 25 46, das Mittel für starke Männer. Sie lächelte ihn an. Etwa mitleidig, schien es ihm. „Hier! Guck’s dir an!“
Sie hielt ihm eine Art Landkarte unter die Nase. Die sah aus wie ein Gehirn. „Hier kannst du sehen, auf welcher Frequenz welcher Teil deines Gehirns läuft!“ Er wurde neugierig. In den verschiedenen Teilen des Gehirnbildes waren die Codes abgebildet. Die Frequenzen. Er kannte sie alle. Hatte alle schon x-mal durchprobiert. Nur eine solche Karte war ihm neu.
„Und nun? Was soll ich damit?“ Er war ungeduldig. Dieses Spiel war nicht mehr in seiner Kontrolle. Er tippte die 33 33. Das Mittel gegen Kontrollverlust. Er roch den feinen Duft, hörte den Ton und wurde ruhig. „Was soll ich damit?“ wiederholte er.
„Das sind die besetzten Gebiete.“ Erklärte sie. „ Hier zum Beispiel: Frequenz 78 65. Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Oft kombiniert mit 23 56 Einsamkeit, 56 79 Minderwertigkeit und 78 54 Depression. Diese Battery haben sie versucht, herauszunehmen, aber sie läuft zu gut. Es gibt viele Menschen, die sich damit identifizieren können. Oder hier: 68 49 Verliebtheit. Eine sehr beliebte Frequenz. Nur schade, wenn die Wirkung nachlässt. Darum oft zusammen mit Eifersuchtsdramen, Langeweile, Fremdgehen.“
Sie dreht die Karte ein wenig. „Schau: Da bist du gerade: Frequenz Starker Mann. Und – fühlst dich gut?“
Er nickt beiläufig, kniff ein wenig die Augen zusammen und stemmte die Arme in die Hüften. „Und was soll ich jetzt damit?“ Sie lächelte. „Solange du ein Gefühl brauchst, um deine Mitte zu fühlen, deine Identität, wirst du betrogen. Wir Unabhängigen sind frei davon. Darum sind wir auch nirgendwo zuhause. Nur wer ein Gefühl braucht, um sich zu identifizieren, der braucht die Battery. Braucht ein Zuhause und sonstige Sicherheiten.“
Er legte die Hand an sein Kinn, setzte sich in Posen wie ein Held und überdachte die Sache. „Was meinst du mit Identität?“ fragte er dann, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nun,“ fing sie an, „sobald du einen Code eintippst und den Duft riechst und die Frequenz hörst, kommst du in ein Gefühl. Dann aktiviert sich dein Gehirn und du sagst zu dir: Ich bin! Geht das Gefühl vorbei, brauchst du die nächste Dosis. Wir Unabhängigen fühlen wenig. Denn wir haben keine Mitte. Es ist überall das gleiche zu erleben, nur die Frequenz ist austauschbar.“
„Ich bin ein ganzer Kerl und ich weiß, wer ich bin!“ konterte er. „Die Battery bestätigt mich nur. Tut mir gut. Dann fühle ich mich richtig.“
„Natürlich!“ Rehbraune Augen sahen ihn an. „Wer eine Identität haben will, braucht immer Nachschub. Wir Unabhängigen sind auf keiner Frequenz zu finden. Wir sind. Das ist uns genug“
Goran spürte wie die Frequenz von 25 46 nachließ. Er tippte einen weiteren Code ein. So ein Mist, vertippt. Statt: Ich-bin-ein-Intellektueller hatte er nun Ich-lass-mich-verführen. Die beiden Codes waren einfach zu dicht beieinander.
„Erzähl mir mehr!“ säuselte er. Sie lächelte. Wusste, welche Frequenz gerade angetriggert wurde. Schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Das reicht für heute. Ich bin nicht hier, um deine Stimmungen zu bedienen. Vergiss nicht: Ich bin eine Unabhängige. Geh. Jetzt!“
Ihr Ton erschien ihm barsch und lieblos. Sie jagte ihn weg. Jetzt. In diesem Moment von Nähe und Zweisamkeit hier in diesem Hotelzimmer. „Hey, Süße, komm zu mir! Wir könnten es hier schön haben!“
Sie schüttelte den Kopf, nahm ihren Mantel und verließ das Zimmer. Klarer konnte eine Abfuhr nicht sein. Er legte versonnen den Kopf in den Nacken und genoss die Wirkung von Ich-lass-mich-verführen. Sie war weg. Doch das Gefühl blieb. Er änderte auch den Code nicht, obwohl das möglich gewesen wäre. Die Entspannung, die prickelnde Erwartung, das Geheimnisvolle kostete er gerne noch ein wenig länger.
Nach einiger Zeit spürte er, wie die Wirkung nachließ. Er fühlte keine Sensation mehr. Es war Zeit für einen neuen Code. Er wählte wieder Chill-out und ging nach Hause.

Den Abend verbrachte er mit verschiedenen Batterys bis er dann in einen traumlosen Schlaf fiel, der bis zum Morgen dauerte.
In dem kurzen Moment zwischen Wach-Werden und Wach-Sein – dem Moment, in dem er für gewöhnlich seine drei ersten Tagescodes programmierte, erinnerte er sich an die seltsame Begegnung mit der Unabhängigen. Auch die Karte mit den Gehirnarealen und den Frequenzen kam ihm wieder in den Sinn. „Wer war sie?“
Er hoffte, ihr nochmal zu begegnen. Er stärkte  sich mit My aim, eine phantastische Battery voll Entschlossenheit, Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit. Dann sprang er in seine Jeans und stand eine Viertelstunde später im Hotel. Sie sei noch da, erfuhr er und ließ sich beim Portier telefonisch bei ihr anmelden.
Sie empfing ihn. Der Koffer stand bereits gepackt neben der Tür. Rehaugen fixierten ihn. „Und?“ fragte sie. Mehr nicht.
„Wer sind die Unabhängigen?“ stieß er hervor. „Wer seid ihr? Was macht ihr?“
Sie lächelte. Ein wunderbares Lächeln. „Wir sind frei von jeglichem Code. Wir produzieren unsere Gefühle in unserer eigenen Intensität. Und nicht so wie du und viele andere per Battery.“ Er schaute sie entschlossen und durchdringend an: „Wie kannst du da die Kontrolle bewahren? Ohne Code geht alles ins Chaos!“
Sie schüttelte den Kopf: „Du hast mich gefragt, wer wir Unabhängigen sind. Du magst gerne die Kontrolle haben und hast Angst vor dem Chaos. Wir Unabhängigen lieben das Chaos. Darum müssen wir nichts kontrollieren. Ja, es ist uns egal, welches Gefühl gerade vorherrschend ist. Denn sie unterscheiden sich ja nur in der Frequenz.“
Er schluckte. So einfach ließ er sich nichts vormachen: „Was ist mit deiner Identität? ICH brauche die Codes, um mich zu spüren und zu wissen, wer ich bin. Was hast du denn für eine Identität?“ Er packte sie am Arm. „Oder bist du weak? Schwach. Unfähig diese Intensität auszuhalten, die Gefühle in einem wecken?“
Sie ließ sich nicht beeindrucken. „Wir Unabhängigen haben keine Identität. Das Gefühl des Augenblicks ist in unseren Augen die Illusion von einer Mitte, von einer Identität. Wir sind Geschöpfe ohne Zentrum. Wir sind amorph.“
Er ließ sie los. „Amorph!“ bellte er. „Konturenlos! Keine Geradlinigkeit! Kein Ziel! – Das ist amorph!“
Sie wartete. Ließ einen Moment der Stille verstreichen und nahm ihren Mantel. „Wenn dein Code gleich abgeklungen ist, wirst du anders über mich denken.“
„Wohin gehst du?“ er packte sie wieder am Arm. „Bleib!“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Wir Unabhängigen haben keine Mitte. Und darum auch kein zu Hause.“
Er ließ sie los und gehen. Er ahnte, dass die Unabhängigen weiter und reicher waren als er mit seinen Batterys. Er tippte die 34 67. Tragic moments.


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Zeitenwende

Du hebst deine Nase in die Luft und fühlst das Wetter.
Siehst Hell und Dunkel, spürst Kalt und Heiß.
Kennst den Reigen des Jahres und seine Überraschungen.

Stürme, Unwetter, Katastrophen – auch sie sind integriert
in deine Wetterfühligkeit.
Deine Stimmungen hängen mit all dem zusammen,
Gute Laune – Schlechte Laune.

Und so könnte es weiter gehen – Jahr für Jahr.
Doch du hast den Tsunami nicht beachtet,
der sich grollend in deiner eigenen Tiefe zusammenbraut.

Plattenverschiebungen in unausgeloteten Winkeln,
Brüche in deiner Biographie,
Heben und Senken von vermeintlichem Grund.

Zeit bleibt stehen.
Jahresreigen adé.
Zeitenwende.