Ann.Jan.Fun.

Musik meiner Gedanken


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Inferno

Von weitem sieht es aus wie ein friedliches Südseeparadies. Blaugrünes Wasser, kleine Basthütten, ein entspanntes Inselvolk. Doch beim näheren Hinsehen entdeckst du kleine Reihenhäuser, kurz geschnittene Rasenflächen und ein Volk von braven Bürgern. Nichts trübt die Idylle, selbst der Müll ist an seinem Platz und farblich sortiert.

Kultiviert, diszipliniert, gefühlsmäßig glatt rasiert marschiert dieses Volk durch die perfekte Welt. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, keine Wolke trübt den Anblick. Sie lachen, freuen sich an ihrem Wohlstand und erziehen sich und ihre Kinder zu braven Bürgern.
Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen. Das ist die Devise. Und so kommen nur die guten, hellen, freundlichen, positiven Gefühle auf den Tisch und die dunklen, schrägen, negativen werden geschluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation.
Normalität des bürgerlichen Alltags. Sie singen es, sie lehren es, sie leben es: Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen.
Was schlecht ist, weiß jedes Kind: Aggression, Verweigerung, Ablehnung, Hass, Lüge und Gewalt. Gut ist, was konform ist. Was weiterbringt. Was alle gut finden.

Und so lebt das kleine Volk in seiner scheinbaren Südseeidylle. Beneidenswert diese Sonne und dieses Strahlen. Dieser Friede und diese Harmonie. Dieser Wohlstand und dieses Wohlergehen. Sie lachen und tanzen. Es geht ihnen gut.

Tief im Meer gähnt ein tiefer Abgrund, der all das schluckt, was ins Kröpfchen kommt. Angefüllt ist er mit stinkender, gärender Masse. Er schluckt und schluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation. Die Miasmen eines ganzen Volkes sind in seinem weiten Maul gesammelt, nicht verdaut nur verwahrt. Ein Silo. Eine Grube. Kloake. Täglich wird es mehr und der Abgrund schluckt das Abgründige.

Sie ist jung und hübsch, schluckt brav die Abgründe hinab, die schlechten Gefühle. Das Non-Konforme. Das Ungeliebte. Das Schlecht-Gefühlte.
Sie würgt all das aus ihr Aufsteigende hinunter. Würgt den Hass, die Scham, die Lüge, den Zweifel hinab in das Dunkle, das irgendwo ist, das alles aufnimmt, das nicht gewollt, nicht gewünscht ist. Schluckt wie alle anderen. Lacht das wenige Glück dafür umso lauter hinaus. Ist ein glückliches Inselkind inmitten des eigenen Volkes von Armen-Schluckern und Besser-Essern.

Sie hört das Grollen zuerst, spürt wie das Meer sich zurückzieht, sieht in der Ferne zuerst einen tiefen Abgrund und dann ohnmächtig zu, wie dieser Abgrund das Meer frisst und die Luft darüber und die Zeit, die einfach stehen bleibt.
Das Inselleben geht weiter, lachend und wohlgesittet; niemand sieht das Meer schwinden und den Abgrund gähnen.

Sie steht am Strand. Sieht die Wand aus dem Abgrund aufsteigen, der ohne Ende zu sein scheint. Glatt kommt die Wand näher, türmt alles Abgründige über sich auf. Bedrohlich, wütend, mit nur einem Ziel: Das Festland zu überrollen mit seiner Anwesenheit und seiner Gewalt.

Und so tut es die Wand. Spült den Abschaum über das Inselvolk, speit die Miasmen aus, gischt das Schlechte und Bedrohliche hoch auf, knallt die minderen, verdrängten Gefühle auf die kleine Inselstadt. Tobt, zerschlägt das Gute, zerreißt das Edle, zerstampft die geliebte Ordnung. Zerfetzt die Illusionen. Zerbricht den Frieden. Wütet wild. Zeigt seine geballte Macht und Kraft. Wogt durch idyllische Straßen, zermahlt die Häuser, tötet das Volk, das das Abgründige verbannt hat.

Sie steht am Rand. Fassungslos. Es ist alles weg. Niemand mehr da. Kein Haus, kein Weg, kein Baum, kein Mensch. Nur sie. Allein.
Sie wartet das Tosen ab, den Sturm, das Töten. Dann ist es ruhig. Und friedlich. Wie noch nie.
Es ist nichts mehr da.

Alles, was jemals Wert gehabt hat, ist verschwunden. Nichts bleibt. Nichts. Nichts, an dem die Erinnerung könnte hängen bleiben. Kein bisschen von der alten Ordnung. Es gibt keine Ordnung. Keine vertraute zumindest. Was sie sieht, ist Chaos, eine ungeordnete Ordnung.
Wer ist sie ohne diese Ordnung? Wo sind die Geländer der Zivilisation? Wo die ehrwürdigen Devisen? Was ist ihr geblieben?

Das Schlechte hat sich über alles ergossen, lacht und kichert aus den Winkeln, grinst und feixt sie an. Fremd. Unheimlich. Eine neue Realität. Eine verdammte Realität hat sich aus dem Abgrund aufgemacht in ihr Leben. Das alte Leben ist verschwunden und sie ist allein mit dieser brutalen, gefährlichen Wirklichkeit, vor der man sie immer gewarnt hat. Die sie heruntergeschluckt hat und nie angesehen.

Nun glotzt von jedem Stein und jedem Baum das Schlechte sie an, das Tier, das gebunden gewesen war. Sie ist allein mit dieser Katastrophe. Das Gute ist verschwunden, verschluckt, wie einst das Schlechte. Nun ist das Schlechte sichtbar und ist das einzige, das sie ins Töpfchen legen kann – wenn sie es denn will oder vielleicht nun muss.

Die Welt hat sich verdreht. Dieses Böse ist nun da. Das Verdammte hat sich erhoben und das Gute und Glatte hinweggefegt. Wer wird sie sein, wenn sie nun davon isst? Von dieser Speise, die ihr die Natur nun anbietet, vor der man sie immer gewarnt hat? Soll sie verhungern? Edel und gut. Oder von diesen Schweinetrögen essen und überleben, rau und roh wie ein Tier?
Nicht nur eine Welt ist zerstört: Ihre Gute und Edle, sondern nun wird auch das Böse zu etwas Gutem, weil es sie überleben lässt, wenn sie von ihm isst.

In diesem Inferno von Kräften und Werten, von Gut und Böse, von edel und wertlos atmet sie ein, was ihr die Welt bietet. Isst verbotene Früchte, lacht über das Niedere, weil es das einzige ist, das ihr noch Anlass gibt. Hasst aus tiefstem Herzen diesen Abgrund und liebt ihn dennoch, weil er sie am Leben gelassen hat.

Sie ist die einzige Zeugin von der guten alten Zeit und auch von der Zeit, in der das Abgründige nun seinen Platz hat. Sie schreit ihren Hass und ihre Verachtung heraus, schluckt ihn nicht weiter hinunter, schreit so lange und laut, bis kein Hass mehr in ihr ist, nur noch die Liebe für das Glück und das Schöne.

Und legt sich eine Schicht Dunkelheit über diese zarte Liebe zum Leben, dann kämpft sie wie eine Löwin darum, dass sich das Dunkle wieder in seine Dunkelheit zurückzieht. Kämpft den Kampf der Menschheit. Den jahrtausendalten Kampf gegen das eigene Dunkel. Schreit dem Licht den Weg frei, der Liebe in ihrem Herzen.

In diesem Kampf erstarkt ihr Herz; liebt sie leidenschaftlich und intensiv. Die Liebe, die ihr nichts und niemand entreißen darf, macht sie zu einer Löwin, die sich mutig vor jedes dunkle Gefühl stellt. Und manchmal verwandelt sie etwas Dunkles in etwas Helles. Erlöst das Dunkle aus dem Abgrund, den sie selbst wieder und wieder füllt – was sie nicht will, denn sie weiß von der Macht des Abgrunds.

Sie will den Bann lösen, der über dem Hass liegt, der unverstandenen Liebe. Kämpft gegen die Leere des Lebens mit ihrem Herzen, mit dem Lachen aus den Vorratskammern ihres tiefsten Wesens, das nach Licht strebt, nach Glück und Vollkommenheit.

Sie kämpft den Kampf der Liebe, verwandelt das Dunkle, erhebt das Schwarze ins Licht, geht den Weg, der das Finstre akzeptiert, mit Liebe umfängt und hinauftransponiert in Helligkeit und Glück.
Und dennoch, aus dem Abgrund der Natur steigen Tag für Tag und Nacht für Nacht die unterdrückten Gefühle einer verblendeten Menschheit hinauf, die vermessen geglaubt hat, dass durch Ignoranz und Knechtschaft das Gute über die Menschheit käme.

Sie steht dort mit dem kleinen Schwert ihrer Liebe und berührt damit die kleinen Pflanzen, die aus ihrem eigenen dunklen Abgrund wachsen. Küsst sie und reinigt sie von dem harschen Urteil, das aus ihnen eine Monsterpflanzen macht. Pflegt sie und gewinnt Vorteil aus der Art der Pflanzen zu sein. Nutzt deren Stärke und Kraft, bindet sie ein in ihren Kampf gegen Wertung und Urteil, die den Abgrund erst möglich gemacht haben.


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Kraft

Bevor der Samen in der kargen Erde Fuß fassen konnte, war er schon zertreten; zerquetscht unter einem unbeachteten Schritt in schweren Schuhen.

Das Innere, der zarte, nach Wasser durstende Teil, wurde verformt und bereits mit einer Narbe versehen, bevor der erste Wassertropfen durch die zerstörte Schale zu ihm drang.
Der Keim trank das schmutzige Wasser, das ungefiltert in ihn eindrang und verspürte wohliges Erwachen in sich. Trotz allem. Denn er war ein Keim und zum Wachsen bestimmt.

Es entfächerte sich ein kleines Blatt, das – etwas zu früh für diese Jahreszeit – durch die zerbrochene Schale drängte. Ein rauer Wind umfing ihn, doch das Blatt drängte zur Sonne, denn dafür war es geschaffen.
Ein später Schneefall drückte die kleine Pflanze hart auf die Erde zurück, ließ sie erschauern und ermatten; presste das Leben fast aus ihr heraus und schon ein wenig welken, bevor der erste warme Tag seine Mitgenossen frisch und munter aus der Erde sprießen ließ.

Da lag sie und wurde vom warmen Wetter wieder lebendig und richtete sich auf. Sie bekam eine Knospe, die – ein wenig trostlos zwischen all den bunten Blumen um sie herum – verschlossen blieb.
Den ganzen Sommer blieb sie verschlossen und schaukelte im Wind. Es wuchsen der Pflanze neue Blätter, kräftigere. Auch der Stängel erholte sich und entwickelte sich zu einem robusten Rohr, durch das die kleinen Wurzeln im Erdreich ihren Saft drückten.
Der Sommer verschwand und die Blumen um sie herum verteilten ihren Samen verschwenderisch in den Wind. Nur sie blieb verschlossen. Als einzige.

Dann kam der Tag, an dem sie eine merkwürdige Veränderung bemerkte: Ihr Kopf wuchs. Die schaukelnde kleine Knospe wurde prall und praller und richtete sich auf. Tag für Tag streckten sich die Knospenblätter mehr und mehr, um diesem Wesen in ihrer Mitte, Schutz und Raum zu geben. Eine unbändige Energie durchfloss die Knospe, die nichts anders tat als zu wachsen; denn dafür war sie da.

Und dann! An einem herbstlichen Tag in der Frühe, hielten die Knospenblätter den inneren Druck nicht mehr aus und wichen  zur Seite. Eine farbenfrohe Pracht quoll aus dem schützenden Blattwerk, wuchs in die Breite und in die Höhe ungeachtet der Zeit und des Raumes, in dem sie sich befand. Sie wuchs und wuchs, legte Blütenblatt um Blütenblatt der tiefstehenden Sonne zu Füßen, schaukelte im Wind und fing die letzten hungrigen Bienen ein. Eine Explosion aus Duft und Farben, Leuchtkraft und Freude entsprangen der riesigen Knospe. Sie strahlte und lachte dem Glück der Blüte entgegen. Unbändig war die Kraft, die keinem anderen Ziel zustrebte als zu sein.

Wochenlang öffnete sich die Blüte Morgen um Morgen und verschloss sich beim ersten kühlen Abendwind. Sie war die letzte auf dem Feld und verteilte – Wochen danach – in einer späten Stunde mit einer großzügigen Geste ihren Samen. Denn sie war eine Blüte und geschaffen, um zu verschwenden.

Ein harter Sturm entriss ihr kurze Zeit später alle Blätter, kalter Regen drückte sie nieder, der Stängel brach. Ihr Tod wich einem großen weißen Frieden.


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Die Illusion der Mitte oder Warum ich nirgendwo zuhause bin.

Goran, Feinmechaniker der Feinfrequenztechnologie, tunte die etwas aus dem Normmaß geratene Frequenz wieder auf das durchschnittliche Maß. Das war sein Job. Zu weit vom Themengebiet abweichende Frequenzen hatte er so zu justieren, dass sie wieder als klares Thema erkennbar war. Es waren die Vermischungen von mehreren Frequenzen, die immer wieder diese Artefakte auslösten.
Schließlich wollten die Leute klare Gefühle. Trauer musste als Trauer erkennbar sein. Freude als Freude, Neid als Neid und so weiter. Es gab zwar Überschneidungen zum Beispiel Freude und Mitleiden oder Schmerz und Freude, aber das lag am frei wählbaren Programm. Man konnte bis zu vier Emotionen gleichzeitig herunterladen, ohne dass ein Gefühl dabei unterging. Aber vier war die absolute Obergrenze.
Zum Beispiel war die Kombination von Liebe, Eifersucht, Nörgelei und Versöhnungsepos sehr beliebt. Oder die Kombination von Workaholic, Freude, Wichtigtuerei und Depression. Allein mit vier Optionen konnten sich Menschen für Wochen versorgen. Gerne wurden dann die einzelnen Gefühle hintereinander geschaltet, um dann final zu einem  Crescendo anzuschwellen und in ein emotionales Chaos zu stürzen. Emotionales Chaos war dann aber bereits eine neue Gefühlsbatterie, die auch gerne zu Weihnachten oder Silvester genommen wurden. Dann in Kombination mit Friedenswilligkeit, Familiennestwärme und Heile Welt.

„Mensch, ist die Welt voll Scheiße!“, knallte er seinen Handschuh auf den Tisch. „Voll abgefahren, diese Kacke aus Gefühlen. Kann man den nie seine Ruhe haben, Alter?“ Er schaute Tamira aus einer Mischung von Aggression, Langeweile, Überdruss und Enttäuschung an. Diese Mischung hatte er sich aus dem Netz runtergeladen.
„Baby, nimm dir ne Battery Chill out. Hab ich mir auch gerade reingezogen. Cooler Mix aus Easy-going, Gut-drauf, alles–ist-gut-so und Joker.“ Sie reichte ihm das Päckchen und hielt es ihm offen hin. Er zögerte und ranzte. „Watt soll der Scheiß?“, griff aber trotzdem hinein und riss die Verpackung vom obersten Tütchen ab.
Wie auf allen Anleitungen geschrieben steckte er zuerst seine Nase hinein und sog fest an dem feinen Duft, der ihn sofort in die Welt von Sommer, Sonne und hellem Licht zog. Dann hörte er den Ton, besser gesagt die vier Frequenzen, die das Chill-Out-Päckchen ausmachten. Sie waren kaum zu hören, diese Töne, aber sie wirkten auf ihn sofort. Er spürte, wie er an den angeforderten Gefühle andockte und von den vorherigen Frequenzen runterkam.
So war das immer. Das aktuellste Gefühl, war das dominante. „Hey, Tamira, schön dich hier zu haben. Ist ja gleich Feierabend!“, bemerkte er mit dem Blick auf die Uhr. Ja, Chill-out war ein gutes Päckchen.

Er stand auf und bewegte sich ins Lager. Computergesteuerte Greifarme beherrschten die Logistik. Milliarden Päckchen wurden täglich verschickt. Die Leute konnten ohne sie nicht leben. Irgendeine Frequenz war immer gefragt. Ohne ging gar nicht. Die Päckchen hatten den Vorteil, dass sie unabhängig vom Smartphone konsumiert werden konnten. Zum Beispiel – was selten vorkam – in Gegenden ohne guten Empfang. Oder man verschenkte sie oder legte sich Vorräte in die Schulblade. Immer das passende Päckchen zuhaben, bedeutete, die Kontrolle über die Emotionen zu haben.
Päckchen waren auch hochwertiger als die Emotion-To-Go-Päckchen vom Smartphone. Die hohen Frequenzen waren das Problem und ebenso der feine Duft. Ja, besonders der Duft konnte von den Herstellern nicht genau dosiert werden. Die Emotionen waren danach immer etwas trüber als in der Wirklichkeit mit den Päckchen.
Nur zu Großereignissen, wie Weihnachten, Fußball-WM, Kollektive Katastrophen-Erlebnisse wurde die Qualität besser. Dann brauchten die Anbieter nur einen Duftstoff freizugeben, so dass es einfacher wurde, die gute Qualität von Gefühlen zu behalten. Siegestaumel war während der Weltmeisterschaften der Renner, aber auch kollektives Weinen. Das war aber immer gekoppelt mit der passenden Portion Hoffnung, Kampfgeist und starkes-Ego. Zu hohe Dosen von einem Gefühl – so hatte man herausgefunden – waren im Nachhinein schwerer zu neutralisieren.
Zum Glück hatte man noch nicht von dem Ernstfall Gebrauch machen müssen. Die geheime Superwaffe waren Frequenzen über alle Sendemasten und gestreute Düfte von Helikoptern. Diese Maßnahme waren streng geheim und nur dem Militär vorbehalten. Sie galten als hochsensibel, beinhalteten sie doch Emotionen wie Kollektiver Kampfgeist, kollektives Schweigen und kollektive Tatenlosigkeit.

„Ich mach für heute Schluss, Baby!“, rief er Tamira zu und verließ das Labor. Draußen fegte ein rauer Wind. Naja, das Wetter hatten sie noch nicht im Griff. Aber es war egal. Mit dem Chil-out-Päckchen ließ sich jedes Wetter ertragen.
Er ging einkaufen. Etwas planlos, ja lustlos. – Die Wirkung ließ nach und er suchte auf dem Smartphone nach einer passenderen Emo. Ja, die war gut: home-action. Er tippte den Code und hielt die Nase an die kleine Düse. Home-action. Home-action begann er leise zu summen. – Auf der gleichen Frequenz, die fast unmerklich aus seinem Smartphone aufstieg. Jepp, das war gut!
Er schob den Einkaufswagen geschickt durch die Warentürme und legte wohlbewusst seine Vorräte in den Wagen. Es sollte etwas Gutes geben. Heute vegan und indisch. Dann dachte er noch an die Scheuermilch, an den Entkalker und sogar an Blumen.
Neben ihm schob eine ältere Frau ihren Wagen an seinem vorbei. Auch sie trällerte auf seiner Frequenz. „Schöne Blumen! Haben Sie auch an den Schnittblumendünger gedacht?“ Er bedankte sich und schob den Wagen in Richtung Blumenpflegemittel.
Dort saß ein Mann mit einem Rollstuhl und mühte sich mit der Tastatur seines Smartphones ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Wahrscheinlich war er schon zu lange ohne Emotions unterwegs. Goran schaute ihm zu. Keine Mimik verriet, was in dem Mann vorging. Er sah aus wie versteinert. Goran kannte die Symptome: Der Mann stand kurz vor dem emotionalen Kollaps. Es war seine Pflicht, ihm zu helfen.
Er wühlte in seiner Tasche. Dor fand er ein Päckchen Pack-es-an!. Er riss das Siegel ab und hielt dem Mann die Tüte unter die Nase. Es dauerte keine Sekunde. „Hey, junger Mann, geben Sie mir bitte die grüne Flache von da oben! Ja, danke. Und lassen Sie mich jetzt bitte hier vorbei, ich hab es eilig.“ Er rangierte den Rollstuhl an ihm vorbei und grüßte mit einem energischen Blick und mit der Hand an einer vermeintlichen Hutkrempe. Ja, Pack-es-an! machte energisch, tatkräftig, und zielorientiert.

Dann sah er sie. Wunderhübsch, große Augen, sanfter Blick. Sein Typ. Er änderte seinen Code und nahm die Mischung first-love. Bereits beim Duft fühlte er sich leicht und beschwingt, die Frequenz brachte ihn dann auf das angestrebte Level. Ein wenig scheu, verlegen, etwas fordernd, ganz natürlich. Das zog immer. Die anderen Love-Mischungen hob er sich für später auf.
Der unbeabsichtigt, absichtliche Rempler, die kullernden Tomaten aus der Tüte, ihr erschrockener Blick, sein jungenhaftes Lächeln. Er fühlte die Woge der Mischung, hatte keine Schwierigkeiten das erste Wort zu finden, dann kam die Frage mit dem Kaffee-trinken und ja, ob sie nicht 36 54 drauf hätte……Der Code, der junge Mädchen mutig machte.
Die meisten Mädchen machten an diesem Punkt noch mit. Diese hier aber schaute ihn aus  großen Rehaugen an und wandte sich von ihm ab. Er tankte schnell 25 67, die Battery, die er gerne beim Sport nahm: Ausdauer, Kampfgeist, Gewinnerzuversicht und Zielorientiertheit und lief ihr nach.
„Hey, du! Warte mal!“ Er holte zu ihr auf. „Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu hier?“
Wieder ein Blick aus tiefen Rehaugen. Sie wirkte belustigt, wach, ruhig und ernst. Eine Mischung, die es als Battery so nicht gab. Vielleicht hatte sie eine unbekannte Quelle. Er schlug ihr vor, 35 46 zu probieren. Stimmung für leichten Anfang. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Ich bin zu Besuch.“, überraschte sie ihn. Zu Besuch. Wer kam noch zu Besuch? Sie hatten doch alle ihren Platz gefunden? Kommunikation lief über skype, seit Jahren schon, Gemeinsamkeit entstand durch die Global-batterys. Besuche waren überflüssig geworden. Niemand hatte ein zuhause, das andere einlud. Es nicht notwendig, in anderen Räumen zu sein. Trotzdem hatten sie alle viel Spaß miteinander. Vor allem wenn man vor einer Skypesitzung die 54 78 nahm.
Er begleitete sie ein Stück. „Bei wem bist du zu Besuch?“ „Bei euch.“, sagte sie ruhig. „Ich bin auch schon da.“ Sie zeigte auf ein Hotel, das normalerweise Politikern diente, wenn sie Liveauftritte inszenierten.
„Bist du Politikerin?“, fragte er forsch. – 25 67 wirkte noch. Er klickte auf repeat und spürte die gleiche Frequenz nun noch intensiver. Hier war etwas, was es zu entdecken gab. „Nein, ich bin eine Unabhängige.“
„Wow!“ Damit hatte er nicht gerechnet. Unabhängige kannte er nur aus Filmen. Sie waren geheimnisvoll. Er hatte nicht geglaubt, dass es sie in echt gab. Er machte eine Schritt zurück, klickte mechanisch auf check-the-mood (Ratio einschalten, Röntgenblick, Pokerface, Unerschütterlichkeit) und inhalierte kurz.
„Eine Unabhängige! Aha. Und was machst du hier?“
„Im Moment schau ich dir auf chek-the-mood zu. Eben war die 25 67 und davor warst du auf first-love.“ Er schluckte. War das hier ein Artefakt? Er ließ sich seine Unsicherheit nicht ansehen. Klar. Pokerface wirkte.
„Komm, ich zeig dir was!“ sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Hotel hinein. Sie gingen auf ihr Zimmer. In einem unauffälligen Moment tippte er 25 46, das Mittel für starke Männer. Sie lächelte ihn an. Etwa mitleidig, schien es ihm. „Hier! Guck’s dir an!“
Sie hielt ihm eine Art Landkarte unter die Nase. Die sah aus wie ein Gehirn. „Hier kannst du sehen, auf welcher Frequenz welcher Teil deines Gehirns läuft!“ Er wurde neugierig. In den verschiedenen Teilen des Gehirnbildes waren die Codes abgebildet. Die Frequenzen. Er kannte sie alle. Hatte alle schon x-mal durchprobiert. Nur eine solche Karte war ihm neu.
„Und nun? Was soll ich damit?“ Er war ungeduldig. Dieses Spiel war nicht mehr in seiner Kontrolle. Er tippte die 33 33. Das Mittel gegen Kontrollverlust. Er roch den feinen Duft, hörte den Ton und wurde ruhig. „Was soll ich damit?“ wiederholte er.
„Das sind die besetzten Gebiete.“ Erklärte sie. „ Hier zum Beispiel: Frequenz 78 65. Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Oft kombiniert mit 23 56 Einsamkeit, 56 79 Minderwertigkeit und 78 54 Depression. Diese Battery haben sie versucht, herauszunehmen, aber sie läuft zu gut. Es gibt viele Menschen, die sich damit identifizieren können. Oder hier: 68 49 Verliebtheit. Eine sehr beliebte Frequenz. Nur schade, wenn die Wirkung nachlässt. Darum oft zusammen mit Eifersuchtsdramen, Langeweile, Fremdgehen.“
Sie dreht die Karte ein wenig. „Schau: Da bist du gerade: Frequenz Starker Mann. Und – fühlst dich gut?“
Er nickt beiläufig, kniff ein wenig die Augen zusammen und stemmte die Arme in die Hüften. „Und was soll ich jetzt damit?“ Sie lächelte. „Solange du ein Gefühl brauchst, um deine Mitte zu fühlen, deine Identität, wirst du betrogen. Wir Unabhängigen sind frei davon. Darum sind wir auch nirgendwo zuhause. Nur wer ein Gefühl braucht, um sich zu identifizieren, der braucht die Battery. Braucht ein Zuhause und sonstige Sicherheiten.“
Er legte die Hand an sein Kinn, setzte sich in Posen wie ein Held und überdachte die Sache. „Was meinst du mit Identität?“ fragte er dann, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nun,“ fing sie an, „sobald du einen Code eintippst und den Duft riechst und die Frequenz hörst, kommst du in ein Gefühl. Dann aktiviert sich dein Gehirn und du sagst zu dir: Ich bin! Geht das Gefühl vorbei, brauchst du die nächste Dosis. Wir Unabhängigen fühlen wenig. Denn wir haben keine Mitte. Es ist überall das gleiche zu erleben, nur die Frequenz ist austauschbar.“
„Ich bin ein ganzer Kerl und ich weiß, wer ich bin!“ konterte er. „Die Battery bestätigt mich nur. Tut mir gut. Dann fühle ich mich richtig.“
„Natürlich!“ Rehbraune Augen sahen ihn an. „Wer eine Identität haben will, braucht immer Nachschub. Wir Unabhängigen sind auf keiner Frequenz zu finden. Wir sind. Das ist uns genug“
Goran spürte wie die Frequenz von 25 46 nachließ. Er tippte einen weiteren Code ein. So ein Mist, vertippt. Statt: Ich-bin-ein-Intellektueller hatte er nun Ich-lass-mich-verführen. Die beiden Codes waren einfach zu dicht beieinander.
„Erzähl mir mehr!“ säuselte er. Sie lächelte. Wusste, welche Frequenz gerade angetriggert wurde. Schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Das reicht für heute. Ich bin nicht hier, um deine Stimmungen zu bedienen. Vergiss nicht: Ich bin eine Unabhängige. Geh. Jetzt!“
Ihr Ton erschien ihm barsch und lieblos. Sie jagte ihn weg. Jetzt. In diesem Moment von Nähe und Zweisamkeit hier in diesem Hotelzimmer. „Hey, Süße, komm zu mir! Wir könnten es hier schön haben!“
Sie schüttelte den Kopf, nahm ihren Mantel und verließ das Zimmer. Klarer konnte eine Abfuhr nicht sein. Er legte versonnen den Kopf in den Nacken und genoss die Wirkung von Ich-lass-mich-verführen. Sie war weg. Doch das Gefühl blieb. Er änderte auch den Code nicht, obwohl das möglich gewesen wäre. Die Entspannung, die prickelnde Erwartung, das Geheimnisvolle kostete er gerne noch ein wenig länger.
Nach einiger Zeit spürte er, wie die Wirkung nachließ. Er fühlte keine Sensation mehr. Es war Zeit für einen neuen Code. Er wählte wieder Chill-out und ging nach Hause.

Den Abend verbrachte er mit verschiedenen Batterys bis er dann in einen traumlosen Schlaf fiel, der bis zum Morgen dauerte.
In dem kurzen Moment zwischen Wach-Werden und Wach-Sein – dem Moment, in dem er für gewöhnlich seine drei ersten Tagescodes programmierte, erinnerte er sich an die seltsame Begegnung mit der Unabhängigen. Auch die Karte mit den Gehirnarealen und den Frequenzen kam ihm wieder in den Sinn. „Wer war sie?“
Er hoffte, ihr nochmal zu begegnen. Er stärkte  sich mit My aim, eine phantastische Battery voll Entschlossenheit, Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit. Dann sprang er in seine Jeans und stand eine Viertelstunde später im Hotel. Sie sei noch da, erfuhr er und ließ sich beim Portier telefonisch bei ihr anmelden.
Sie empfing ihn. Der Koffer stand bereits gepackt neben der Tür. Rehaugen fixierten ihn. „Und?“ fragte sie. Mehr nicht.
„Wer sind die Unabhängigen?“ stieß er hervor. „Wer seid ihr? Was macht ihr?“
Sie lächelte. Ein wunderbares Lächeln. „Wir sind frei von jeglichem Code. Wir produzieren unsere Gefühle in unserer eigenen Intensität. Und nicht so wie du und viele andere per Battery.“ Er schaute sie entschlossen und durchdringend an: „Wie kannst du da die Kontrolle bewahren? Ohne Code geht alles ins Chaos!“
Sie schüttelte den Kopf: „Du hast mich gefragt, wer wir Unabhängigen sind. Du magst gerne die Kontrolle haben und hast Angst vor dem Chaos. Wir Unabhängigen lieben das Chaos. Darum müssen wir nichts kontrollieren. Ja, es ist uns egal, welches Gefühl gerade vorherrschend ist. Denn sie unterscheiden sich ja nur in der Frequenz.“
Er schluckte. So einfach ließ er sich nichts vormachen: „Was ist mit deiner Identität? ICH brauche die Codes, um mich zu spüren und zu wissen, wer ich bin. Was hast du denn für eine Identität?“ Er packte sie am Arm. „Oder bist du weak? Schwach. Unfähig diese Intensität auszuhalten, die Gefühle in einem wecken?“
Sie ließ sich nicht beeindrucken. „Wir Unabhängigen haben keine Identität. Das Gefühl des Augenblicks ist in unseren Augen die Illusion von einer Mitte, von einer Identität. Wir sind Geschöpfe ohne Zentrum. Wir sind amorph.“
Er ließ sie los. „Amorph!“ bellte er. „Konturenlos! Keine Geradlinigkeit! Kein Ziel! – Das ist amorph!“
Sie wartete. Ließ einen Moment der Stille verstreichen und nahm ihren Mantel. „Wenn dein Code gleich abgeklungen ist, wirst du anders über mich denken.“
„Wohin gehst du?“ er packte sie wieder am Arm. „Bleib!“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Wir Unabhängigen haben keine Mitte. Und darum auch kein zu Hause.“
Er ließ sie los und gehen. Er ahnte, dass die Unabhängigen weiter und reicher waren als er mit seinen Batterys. Er tippte die 34 67. Tragic moments.


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Die Freuden der Frau M.

Frau M. ging gerne bis ins Detail. Gerade dort steckte der große Moment, fand sie. In den gedanklichen Nuancen lag die Chance, die Wegstrecke nach links oder rechts laufen zu lassen. Denn alles begann im Kleinen und endete im Großen.

Täglich machte sie sich auf den Weg, um pünktlich auf der Arbeit zu sein. Denn auch hier – in der zeitlichen Dimension – galten die gleichen Gesetze: Gab es eine Zeitverschiebung, sei es durch zu spät kommende U-Bahnen oder durch selbst verschuldete Verzögerungen, so zog sich dieser Moment der Nachlässigkeit durch den Tag und endete am späten Nachmittag im hektischen Chaos.

Ihre Arbeit war ihre Leidenschaft. Denn dort ging es um‘s Detail. Akribisch registrierte sie jede Art von Schlampigkeit, Unkorrektheit und – was ihr am meisten zuwider war – Faulheit. Faulheit war der Nährboden für jeglichen Detailverlust.
Faule gaben sich mit oberflächlichem Grobwissen zufrieden, mit dem Tun-als-ob. Diese Menschen hatten den Wert des Details noch nicht erfasst – wie denn auch?

Die Unkorrekten und Schlampigen waren dagegen nur etwas voreilig, doch guten Willens, das Detail zu entdecken. Ihnen konnte geholfen werden, um in die Geheimnisse des Details einzutauchen und sie lieben zu lernen. Denn sie wusste: wer das Detail kannte, der kam im Leben zurecht.

Natürlich mochte sie auch die Fleißigen und Korrekten. Die alles von Anfang an korrekt machten, mit einer Art Bürokratenhaltung sozusagen also. Diese Menschen liebten zwar nicht das Detail, aber sie kannten es und wussten es anzuwenden. Anständig und mit einer guten Portion Bodenhaftung versehen, würden sie in ihrem Leben noch viele Details hinzufügen können.

Am liebsten hatte sie jedoch die, die nicht nur das Detail liebten wie sie selbst, sondern darüber hinaus eigene Details ausfindig machten. Die ihr – ja ihr! – Details zeigen konnten, die sie selbst nicht kannte oder vergessen hatte. Diese Menschen waren die Zukunft! Eigene Detailfinder! Detailentdecker! Detailkreative!

Von ihnen gab es viel zu wenig. Es gab Jahre, da erschien keiner von dieser besonderen Art auf der Bildfläche. Doch sie ließ sich nicht entmutigen. Sie hatte den scharfen Blick! Niemals würde ihr auch nur ein solcher oder eine solche durch die Lappen gehen!

Nichts desto trotz hatte sie mit den anderen genug zu tun. Bevor es denn dann klingelte und die Bücher zugeschlagen wurden, rief sie mit mahnender Stimme in den Raum: „Kinder, denkt an eure Mathehausaufgaben!“


Ein Kommentar

Die alte Frau und die Zeit

Frau W. hatte ihre Kinder groß gezogen, ihren Mann versorgt und zum Schluss gepflegt und nun war nur noch sie da. Das war eine ungewohnte Situation. Sie rettete sich daraus, indem sie begann, sich selbst zu pflegen.
Die Batterie an Cremes, Salben, Mittelchen stand zentral im Badezimmer und in der Küche sammelten sich die Mineralstoffpräparate, Nahrungsergänzungsmittel und diverse Pillen. Es waren langgezogene Zeremonien und Rituale, mit denen sie den Tag über die Pflege ihres welkenden Körpers vollzog.
Dabei empfand sie eine große Genugtuung. Nicht dass sie bereits irgendwelche Besserungen oder Linderungen erfuhr- so krank war sie eigentlich noch gar nicht- aber sie wusste, was sie tat. Es war die Gewissheit, das Richtige zu tun. So wie sie es immer schon getan hatte.
Freundinnen von ihr gingen zusätzlich ins Krankenhaus als grüne Engel. Eine Bekannte versuchte sich sogar als Lesepatin in einer Schule. Es gab genug zu tun auf dieser Welt für Frauen wie sie.
Sie jedoch war mit ihrer eigenen Pflege ausgelastet. Hatte nicht das Bedürfnis, noch mehr Menschen zu pflegen. Obwohl sie oft mit dem Gedanken spielte.
Denn etwas fehlte in ihrem Leben. Vielleicht war es ja doch die Pflege wildfremder Menschen – jetzt wo sie keine Familie mehr hatte, die zu pflegen war, denn Enkel hatte sie ja leider noch nicht.
Sie wischte den Gedanken beiseite. Wildfremde wollte sie nicht pflegen. Und ins Tierheim wollte sie auch nicht. Außerdem hatte sie eine Allergie gegen Tierhaare.
Was sollte sie also tun mit ihrer Zeit? Sie hatte zeitlebens gepflegt. Zuerst ihre kleineren Geschwister, damals nach dem Krieg, und dann hatte sie in jungen Jahren kurzfristig in einem Hospital gearbeitet, bis sie ihren Mann kennengelernt hatte.
Sie hatte also nichts anderes gelernt als andere Menschen zu pflegen und nun sich selbst. Nun war sie bald 70 und es fehlte etwas in ihrem Leben.
Das war eine Erkenntnis, die sie sehr nervös machte; Wollte sich auf nichts Neues einlassen. Nicht jetzt noch.
Und trotzdem lag das Leben noch vor ihr. Wie immer. Nur ganz am Ende, da stand der Tod.
Sie begann, sich heftig einzucremen. Legte eine Extraschicht auf und massierte die Gedanken an die Zukunft in ihre Oberschenkel. Es war alles gut so wie es war. Sie war gesund und hatte ein reiches Leben geführt. Sie wollte das alles nicht aufs Spiel setzen für ihre eigene, launische Unzufriedenheit.
Doch der Gedanke, die nächsten zwanzig Jahre cremend und Tropfen einnehmend zu verbringen, versetzte sie ihn Panik. Sie fühlte sich gefangen in ihrer eigenen Haut.
Sie brach den Vorgang ab, zog sich die Strümpfe über die öligen Beine und machte sich ausgehfertig. Es hielt sie nichts mehr in dieser Wohnung. Sie wollte raus aus der Enge ihrer vier Wände und fand sich ziellos vor der Haustür wieder.
Wohin?
Sie hatte die Wahl nach rechts oder nach links zu gehen. Oder erst einmal die Straße zu überqueren! Das hatte sie noch nie gemacht! Sie überquerte die Straße immer an der Ecke.
Verwegen schaute sie nach links und rechts und setzte den Fuß auf die Fahrbahn. Kein Auto weit und breit und schnell war sie auf der anderen Straßenseite. Das fühlte sich sehr merkwürdig an. Vor allem sah sie nun das Haus, in dem sie wohnte, aus einer unvertrauten Perspektive. Sah ihre Gardinen oben im zweiten Stock etwas unordentlich zusammengerafft vor dem Fenster hängen.
Es interessierte sie nicht. So war das nun eben.
Sie entschied sich, der Sonne entgegen zu gehen. Also nach links. Vom Haus aus gesehen war das rechts. Sie hatte keinen Plan, wohin sie ging. Es war zwar der Weg zum Einkaufszentrum, aber sie brauchte nichts. Sie hatte alles in den Schränken, vorgesorgt für zwei Monate.
Sie genoss die Sonne und schritt munter aus. Das Abenteuer begann. Im Einkaufszentrum war noch nicht viel los. Es war früh und die Geschäfte öffneten gerade erst. Die Geschäftigkeit dort lockte sie nicht zum Verweilen. Und so durchquerte sie das Areal und kam in die Wohngegend dahinter.
Hier war sie nur selten unterwegs und wenn, dann nur auf dem Weg zur Gärtnerei. Dort holte sie im Frühling und im Herbst ihre Balkonpflanzen.
Die Gegend war auch hier noch sehr verschlafen. Hin und wieder sah sie jemanden das Haus verlassen und in Richtung Einkaufszentrum radeln oder gehen.
Sie mochte diese Gegend nicht. Es standen hier nur Einfamilienhäuser mit großen Vorgärten. Eine Ansammlung von toter Materie, die wenig Abwechslung und Spannung enthielt. Jeder war hier für sich und mit einem großen Radius umgeben.
Sie überlegte, wieder zurückzugehen. Da beobachtete sie auf dem Grundstück neben ihr, hinter der kleinen Hecke, eine unerwartete Bewegung. Neugierig blickte sie über die rote Berberitzenhecke hinweg und scheute erschrocken zurück. Da lag jemand.
Wie gelähmt blieb sie stehen. Was sollte sie tun? Wer war das? Lebte der noch?
Vorsichtig machte sie einen Schritt nach vorne und äugte über das rote Laub. Da lag ein Mann. Auf dem Rücken. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt schaute er in die Luft und dann sie an. Er blinzelte verschmitzt und genoss ihre Verwirrung.
Der Mund stand ihr offen. Dieser Mann, wie er da lag, hinter der Hecke, an diesem frühen Morgen, all das passte nicht in irgendein Schema in ihrem Kopf. Sie war verwirrt und zweifelte an ihrer Beobachtung. Beugte sich weiter vor und schaute genauer hin.
Da lag ein Mann. Auf dem Rücken. Ein Bein über das andere gelegt und sehr entspannt. Er mochte so um die sechzig Jahre alt sein.
Nun wurde es ihr peinlich, ihn in seinem Vorgarten anzustarren. Er schien jedoch damit keine Schwierigkeiten zu haben. Er schaute sie interessiert vom Boden aus an und schmunzelte.
„Guten Tag!“, spulte sie ab. „Geht es Ihnen nicht gut? Kann ich Ihnen helfen?“
Mehr fiel ihr nicht ein.
„Ich brauche keine Hilfe!“, sagte der Mann, „aber wenn Sie möchten, können Sie sich zu mir in das Gras legen!“
Sie überlegte. Er hörte sich nicht anzüglich an, eher freundlich einladend. Wie zu einem Kaffee, nur halt eben nicht zu einem Kaffee, sondern für einen Grasplatz.
Das war etwas sehr Neues für sie. Und da sie nichts anderes vorhatte, stieg sie über die kleine Hecke und setzte sich zu ihm ins Gras.
Diese Perspektive war ausgesprochen ungewohnt für sie, so hinter der Hecke, dicht am Gehweg. Nicht unangenehm. Der Rasen war auch hier gemäht und schön grün und vom Boden aus war die kleine Hecke sogar ziemlich hoch.
Sie war mit ihm nun fast auf Augenhöhe und betrachtete sein Gesicht von oben. Denn er lag da immer noch mit verschränkten Armen hinter dem Kopf.
Er war wohl doch schon älter. Vielleicht siebenundsechzig. Ja, das musste er wohl sein, so ein Rentner. Vorher hatte man ja nicht Zeit für sowas wie hier.
„Möchten Sie sich nicht legen? Das ist viel bequemer!“ lud er sie ein.
Da zögerte sie. Sie hatte zwar keinen Rock an, aber so wollte sie sich nicht legen. So ausgeliefert auf den Rücken.
„Ich bleibe lieber sitzen!“, sagte sie und rückte ihren Fuß unter ihren Po. „Aber schön haben Sie es hier! Liegen Sie hier öfters rum?“
„Leider nein!“, sagte der Mann, „meistens sitze ich in meinem Sessel. Oder in meinem Liegestuhl. Nur heute wollte ich etwas anderes erleben. Und siehe da! Schon passiert etwas!“
Sie war irritiert. Sollte das Leben so einfach sein? Sie hatte jahrelang alle möglichen Menschen gepflegt und sich um alles gekümmert. Und nun um sich selbst. Aber so etwas Spannendes wie gerade hatte sie noch nie erlebt. Auch nicht in dem Urlaub auf Mallorca.
„Was machen wir jetzt?“, fragte sie den Mann.
„Wir sitzen im Gras.“, sagte der Mann, „und das ist doch schon sehr ungewöhnlich, finden Sie nicht auch?“
„Ja, allerdings!“, sagte sie, „und wir sollten das ausgiebig genießen!“
Und so blieben sie sitzen und schauten den verwirrten Menschen zu, die neugierig über die Hecke schauten und dann schnell weg, rochen an den kleinen Gänseblümchen und stellten sich gegenseitig Fragen.
Der Vormittag verflog wie im Nu. Da bekamen sie Hunger und gingen rein. Er kochte ihr ein Mittagessen und sie genoss es.


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Wir gehen weiter!

Er hustete, keuchte, riss die Augen auf und sah nur Staub. Er kniff sie schnell wieder zu bevor er sich wieder hustend nach vorne beugte. Gleichzeitig wollte er rufen, krächzte nur „Thommy!“, lief blind ein paar Schritte nach vorne und stolperte. Berührte dabei etwas Weiches, Haariges, riss die Augen auf und sah in liegen.
Fremd. Anders. „Thommy!“ und dann lauter: „Thommy!“ Er kroch näher zu dem leblosen Körper, ertastete das geliebte Gesicht, flüsterte „Thommy!“ Immer wieder „Thommy!“
Dann sackte er zusammen auf der Brust des Freundes.
So fand man sie. Brachte ihn ins Krankenhaus, den Freund weg. Gab ihm eine Spritze, von der er lange schlief. Dann kam das Erwachen.
Sie sagten ihm, dass Thommy tot sei. Das wusste er doch schon. Sie sagten, dass es ein schlimmes Unglück gewesen war. Er könne von Glück reden, dass er noch lebte.
Thommy Eltern kamen. Alle waren verweint und unsäglich traurig. Auch er. Er am meisten. Weil er die Schuld hatte. Er hatte gesagt: „Wir gehen weiter!“
Niemand machte ihm einen Vorwurf. Alle waren froh, dass er lebte. Er nicht. Er wäre lieber tot gewesen. Zusammen mit ihm, seinem einzigen, geliebten Freund.
Er hatte ihn auf dem Gewissen. „Wir gehen weiter!“. Das war seine Idee gewesen. Thommy war der Vorsichtigere von ihnen beiden gewesen. Hatte alles mitgemacht und dann kam der Einsturz. Der alte Balken war gebrochen. Das hatte man ihm nicht angesehen. Sie hätten gar nicht dort spielen dürfen. Es war verboten.

Oft wachte er nachts auf und sah die alte Fabrik vor sich. Die hohen Hallen, die Flaschenzüge, die seltsamen alten Maschinen, den Backstein.
Er bekam asthmatische Anfälle, sobald es irgendwo staubte. Dann spürte er eine hilflose Beklemmung in seiner Lunge, ja, er roch den Staub, diesen feinen Geröllstaub, der sich in alten Gemäuern sammelt.
Im Lauf der Jahre verlor er mehr und mehr die Lebensfreude, denn der beste Freund, den er je gehabt hatte, war tot und er trug die Schuld. Es fiel ihm schwer, Thommys Eltern in die Augen zu sehen. Er hatte ihren Sohn getötet mit seinem „Wir gehen weiter!“
Niemand wusste davon. Er hatte es keinem gesagt. Die Schuld lastete so schwer auf ihm, dass er darüber nicht reden konnte. Sie fragten auch nicht. Im Gegenteil, alle versuchten ihn zu trösten, ihn aufzumuntern und ihm die Freuden des Lebens zu zeigen.
Es gab keine Freude mehr.
Später lernte er neue Leute kennen. Im Studium. Manch einer suchte seine Freundschaft, aber er blockierte. Er wollte nicht. Es sollte keiner sein Freund sein. Er wollte keinen. Er war zufrieden, wenn er irgendwo dabei war, in kleineren Gruppen, in oberflächlichen Gesprächen.
Das Studium ging vorbei und der erste Job kam, dann die zweite Anstellung und nun war ser eit vier Jahren in dieser Firma. Er war der fleißige, stille Kollege, der immer da war, korrekt, aber etwas menschenscheu.
Einmal hatte er einen Kollegen gegenüber gehabt. Der war sehr nett und sie gingen auch das eine oder andere Bier nach Feierabend trinken. Doch es stellte sich nie wieder die Vertrautheit ein, die er damals mit Thommy gehabt hatte.
Was hatten sie damals albern gelacht, sich auf die Schultern geklopft – wie Brüder. Unzertrennlich. Und es gab keine Geheimnisse zwischen ihnen. Sie hatten über alles reden können. Über die Mädchen. Über Sex. Über die Eltern.
Thommy hatte gerne gelesen, ihm Bücher empfohlen und auch darüber konnten sie reden. Manchmal hatten sie einen durchgezogen und gekichert, hatten zusammen die Schule geschwänzt oder Radtouren gemacht.
Mit dem Kollegen von gegenüber, dem nettesten im Team, blieb es beim Bier. Dann fuhr jeder nach Hause.
Die Feierabende und Wochenenden wurden von Jahr zu Jahr länger. Manchmal ging er allein ins Kino oder fuhr an den Stadtrand mit dem Rad. Meistens jedoch verbrachte er seine Zeit mit lesen. Das lenkte ihn ab. – Aber die Freude kam nicht vorbei.
Eigentlich wollte er gerne dabei sein. Schaute sehnsüchtig auf Gruppen und Cliquen. Aber wenn er irgendwo dabei war, fiel er auf mit seiner melancholischen Art. Er war nicht der Unterhalter. Er fühlte sich als Stimmungskiller und zog sich noch mehr zurück.
Und nun war er 42. Mit Frauen hatte es auch nicht richtig geklappt. Er war ihnen wahrscheinlich zu langweilig.
An Thommy dachte er nur noch selten. Dann jedoch durchflutete eine Wärme sein Herz, er hörte Thommy lachen und reden und dann … war da plötzlich der tote Blick.
Und wie von hohen Mauern hallte sein „Wir gehen weiter!“ – drohend und laut.
Sie war zuerst überrascht von seiner ungewohnten Höflichkeit, die diskret und aufmerksam war. Dann begann sie, ihn zu beobachten: Wie mit einem siebten Sinn bewegte er sich durch das Großraumbüro. Das Warten am Kopierer wurde mit ihm nicht zur peinlichen Smalltalk-Situation, die Kaffeemaschine in der kleinen Büroküche wurde von ihm sauber hinterlassen. Mitteilungen gab er völlig unaufgeregt und beiläufig weiter. Sie hatte das Empfinden, dass er alles hochsensibel wahrnahm und dabei selbst völlig unscheinbar im Hintergrund blieb.
Er ging auf alle mit der gleichen Höflichkeit zu, gesellte sich hin und wieder zu einer der kleinen Gruppe, die in den Pausen zusammenhockten. Schien aber nirgendwo dazuzugehören.
Sie war seit kurzem für den Einkauf zuständig und hatte nicht viel mit ihm zu tun. Er bearbeitete die Projekte und hielt Kontakt zur Produktion. Es waren wenige Begegnungen, die sich beiläufig oder spontan ergaben. Er hielt sich einfach zurück.
Es war ein Samstagnachmittag im November.
Sie griffen beide gleichzeitig nach dem Buch. Ließen es gleichzeitig los als hätten sie sich verbrannt und er machte einen Schritt zurück. „Bitte sehr, nehmen Sie es!“ – da war sie wieder, diese höfliche Art. Und dann erkannte er sie. Lachte. „Hey, wir kennen uns aus dem Büro! Du bist noch nicht lange da.“
Sie war irritiert, ihn woanders zu sehen. Hier war ihre Buchhandlung, ihre Enklave nach dem Job. „Ja, ich arbeite im Einkauf. Seit einem Monat!“ sagte sie mechanisch und versuchte, die inneren Bilder übereinander zu bekommen. Begann trotzdem den Small-Talk, gewann wieder die Kontrolle über die Situation, wurde wagemutig und schlug ihm vor, Kaffee trinken zu gehen.
Und dann saßen sie bei Cappuccino und Latte Macchiato, sprachen über das Buch, den Job und mehr. Unkompliziert. Sie fanden Worte für alles, schauten sich gerne offen ins Gesicht und ja, sie lachten miteinander
Dann war der Kaffee getrunken und sie sagte: „Komm! Wir gehen weiter!“

Und da schmeckte er den Staub, fühlte Enge in der Brust, hielt sich an der Tasse fest und wurde schroff: „Nein! – Geh allein. Ich will nicht.“
Da war sie verletzt, drückte verlegen ihre Tasche zusammen und der Gruß fiel kurz aus. Dann war er allein. Sein Atem ging schwer und der Blick war in weite Ferne.
Er mochte sie. Sie hatten zusammen gelacht. Aber „Wir gehen weiter!“ hätte sie nicht sagen sollen, nicht sagen dürfen. Das waren seine geheimen Worte der Schuld.

Trotzdem war danach alles anders. Die Zeit im Büro verflog im Nu, wenn sie da war. Dort sah er sie am Kopierer, in der kleinen Büroküche und hier und da. Er suchte ihre Nähe und ihr Lachen. Dann fühlte sich das Leben gut an. Dann war Freude. Dann war leichtes Glück überall.
Doch je mehr er sie mochte, desto größer wurden seine Beklemmungen. Er träumte auch wieder von dem weißen Staub und hörte das Bersten des Balkens. Ja, je mehr er sie begehrte, desto enger wurde das Band an seinem Hals.
Sie hatte sich von ihm zurückgezogen. Das spürte er. Seine Worte da im Café waren zu schroff gewesen, der Ton. Sie wusste ja nicht, dass das das seine Schuldworte gewesen waren. „Wir gehen weiter!“
Das Gespräch, die unverstellte Sympathie, die zwischen ihnen entstanden war, da in dem Café, das Lachen, die Unbekümmertheit – es war wie damals mit Thommy. Der tote Thommy.
Und wieder schaute er vom PC hoch, blickte unauffällig in ihre Richtung, erhaschte einen Blick auf ihren Rücken und ihre Haare. War hin und hergerissen. Schmeckte Staub und beschloss, weiterzuarbeiten. In die Sicherheit der Arbeit zu fliehen. Wie so oft.
Thommy war nun über 25 Jahre tot. Seitdem hatte er nie wieder eine solche Freundschaft erlebt. Bis da im Café… da war der Hauch von unkomplizierter Freundschaft bei ihm vorbeigekommen….und er hatte sie weggestoßen, weil sie gesagt hatte: „komm, wir gehen weiter!“
Wie absurd!
Da saß er mit geschlossenen Augen. Spürte wie der Staub von Jahrzehnten von ihm abfiel. Sah die alte Fabrik, den Balken. Sah zwei Jungen, die sich wagten. Hörte sich die Worte rufen „Wir gehen weiter!“
Und es wäre gut gegangen, wenn der Balken nicht so morsch gewesen wäre in der Mitte. Das hatten sie nicht gesehen. Er nicht. Und Thommy auch nicht. Es war der Balken, der stark und sicher ausgesehen hatte, der sie getäuscht hatte. Der Thommy in den Abgrund hatte fallen lassen. Es waren nicht die Worte gewesen. Es gab keine Schuldworte. Thommy wollte weiter, genau wie er. Doch der Balken hatte ihn nicht tragen wollen.
Er öffnete die Augen und ein Schauer durchlief seinen Körper. Er war unschuldig! Freigesprochen nach Jahren.
Tore öffneten sich, Wände wichen zurück. Die Welt hatte ihn zurück.
Da stand er auf, suchte den Weg zu ihr, hielt ihr die Hand hin: „Komm, wir gehen weiter!“


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Wie immer. Ich!

Sie hatte den Termin beim letzten Mal schon festgemacht. So machte sie es immer. Das war praktisch, denn diese kleinen Routinen im Alltag gaben ihrem Leben Stabilität.
Der Tag war gut gewesen. In ihrem Job lief alles gut, es gab keine Beschwerden und die Arbeit mit den Kollegen machte Spaß. Sie liebte solche Tage, die so rund liefen wie ein Eierpfannekuchen.
Ja, sie war erfahren und arbeitete die neuen Mitarbeitern ein.
Sie zog sich an diesem Morgen extra keinen Rollkragenpullover an. Das machte sie immer so. Ein T-Shirt und darüber eine Jacke. Das war praktisch und sah sowohl im Job als auch hinterher auf dem Frisörstuhl gut aus.
Pünktlich machte sie Feierabend. Es waren zwei Stationen mit der U-Bahn, dann war sie da. Die Leuchtreklame blinkte, drinnen sah es gemütlich aus. Sie mochte das Ambiente dieses Salons. Es zeugte von gutem Geschmack, etwas Luxus und Wellness. Sie ging bereits seit Jahren hierhin; war Stammkundin. Es war klar, dass sie immer von Susanne bedient wurde. Die kannte ihre Haare, wusste wie sie sie gerne trug und war eine angenehme Person, die sie am Feierabend gut ertragen konnte.
Sie kam sofort dran. Der blauschwarze Umhang schwang sich um ihren Körper, die kleine Krause am Hals wurde mit zarten Händen befestigt und sie lehnte sich entspannt in das Kopfbecken zurück. Die Massage der Haarwäsche war wie immer göttlich. Susanne nahm sich viel Zeit. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihr immer ein gutes Trinkgeld gab.

Sie versank in wohliges Schnurren und ließ den Tag Revue passieren, der so rund und glatt gelaufen war wie im Bilderbuch.
Susanne kämmte ihre Haare streng nach hinten und blickte sie im Spiegel gegenüber lächelnd an.
„Wie immer?“ Sie nickte. Ihre Haare trug sie seit Jahren auf die gleiche Weise. Sie waren ihr Markenzeichen. Daran wollte sie nichts ändern.
Die Schere klapperte und sie genoss das Schweigen, das entstand während Susanne ihre Haare schnitt. Sie hielt nicht viel von Small-Talk während dieser Prozedur. Susanne sollte sich auf die Frisur konzentrieren. Sie wollte sie nicht ablenken.
Außerdem genoss sie das gute Gefühl von Nähe und Vertrautheit, währenddessen sie ihren Gedanken nachhing.
Sie öffnete die Augen, als die Schere nicht mehr klapperte. Susanne steckte den Föhn ein und begann, ihre Haare tuffig und locker zu föhnen. Zum Schluss kam wie immer dieses gut duftende Spray hinein, das sie wie eine Diva riechen ließ.

Dann war alles vorbei, der Umhang wurde weggezogen und sie fühlte sich gut, als sie sich im Spiegel betrachtete. Susanne zeigte ihr die Haare mit dem Handspiegel noch von hinten und so wusste sie, dass sie rundherum gut aussah.
Sie dachte: „Wie immer. Das bin ich!“
Sie zahlte. An der Kasse stand die Inhaberin und machte ihr ein Kompliment. Wie jedesmal. Sie liebte das. Es bestätigte sie, bevor sie dann endgültig den Laden verließ und in die winterliche Kälte hinaustrat.

Sechs Wochen später fransten die Haarspitzen wieder aus. Immerhin hatte sie den Termin. In dieser stressigen Zeit hätte sie auch nicht warten wollen. Es reichte, was im Job für eine Stimmung war. Ständig ging das Telefon, E-Mails klickten den ganzen Tag und die Projekte zogen sich wie Kaugummi. Es gab keinen Erfolg. Die Mitarbeiter nervten ziemlich. Ständig war einer krank. Sie selbst schleppte sich auch mit Grippe in das Büro.
Ihr Chef ließ seinen Ärger an ihr aus. Sie sei zu langsam. Er würde von ihr mehr erwarten. Das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Sie spürte selbst, dass sie dieses Tempo überforderte. Er wollte alles gleichzeitig, am besten gestern. Ohne Rücksicht auf Pausen oder Feierabende.
Sie dachte an die Zeit als es noch keine E-Mails gab und das Büro morgens mit der Post versorgt wurde und gut war. Was für eine Raserei.
Sie hatte Kopfschmerzen und manchmal beschlich sie die Angst, dass es etwas schlimmes sein könnte. Sie war jetzt in dem Alter.
Es war schwer, sich um fünf Uhr abzuseilen und die zwei Stationen zum Friseursalon fahren. Die Leuchtreklame am Schaufenster stieß ihr als etwas zu grell auf. Wieso war ihr das nicht schon früher aufgefallen?
Im Salon war es voll. Trotz Termin musste sie warten. Sie mochte das nicht; fühlte sich wie auf dem Abstellgleis. Das brauchte sie jetzt nicht.
Dann kam Susanne und führte sie zu einem anderen Platz, als dem, wo sie sonst immer frisiert wurde. Es störte sie. Sie wollte es so haben wie immer. Aber sie sagte nichts und ertrug es einfach.
Der Umhang wurde übergeworfen und die kleine Krause an ihrem Hals befestigt. Susanne rückte das Haarwaschbecken hinter ihren Kopf und begann mit der Massage.
Sie saß unbequem, das Wasser war zu kalt und die Finger der Frisöse taten ihr weh. Es war unangenehm. Dazu kam, dass sie sich unwohl fühlte wegen dieses Tages. „Vielleicht bin ich mittlerweile zu alt für diesen Job“, dachte sie.
Sie kam mit ihren Überlegungen nicht weiter. Die Haarwäsche war zu Ende und das „Wie immer?“ kam heute durch nicht lächelnde Lippen. Sie nickte. Was sollte sie auch machen? Sie hatte sich entschlossen, die Haare auch Zukunft so zu tragen – obwohl sie gerade der leise Zweifel beschlich, ob die Frisur sie nicht zu anbiedernd jung aussehen ließ.
Die Schere klapperte schweigsam und ihr Blick fiel in den Spiegel. Sie sah, wie sich über der weißen Halskrause ihre Haut unvorteilhaft zusammenschob. Das sah aus, als wäre sie zwanzig Jahre älter.
Dann kam der Föhn, das Spray und der Umhang wurde weggezogen wie bei einem Zauberer auf der Bühne.
Sie war nicht zufrieden mit dem, was sie sah. Die Haare waren kürzer als sonst, zu kurz. Ihre kleinen Geheimratsecken wurden sichtbar. Sie fand sich alt und unvorteilhaft zurechtgemacht.
Sie gingen zur Kasse und die Inhaberin rechnete mit ihr ab. Es gab das obligatorische Kompliment. „Wie verlogen“, dachte sie.
Kurz angebunden ging sie hinaus in die winterliche Kälte und zog die Tür zu. Die klemmte und während sie zog, riss ein Teil von ihrem Fingernagel ab.
Sie dachte: „Wie immer. Das bin Ich!“

Nun war Frühling geworden. Überall quoll das frische Grün aus den Ritzen und dem Grau. Bunt schillerten die Farben des Himmels, der Blumen und der Kleidung. Auch im Büro hatten sie kreatives Chaos. Neue Ideen sprudelten nur so hervor und die Stimmung zwischen allen war großartig. Sie war kreativer als jemals zuvor, zog eine neue Idee nach der anderen aus der Schublade und hatte Erfolg.
Sie sah im Vorbeiflug auf ihrem Kalender, dass ihr Termin bei Susanne anstand. Sie überlegte.

Und sagte ab.

Trotzdem machte sie pünktlich Schluss und eilte aus dem Haus.
Nebenan hatte ein neuer Frisör eröffnet. Cooles Outfit. Extraordinär.
Sie trat in den Laden und wurde von einem jungen Mann begrüßt. „Ich möchte einen neuen Kopf. Haben Sie eine Idee?“, fragte sie.
Er nickte und erklärte ihr, was er mit ihr vorhatte.
Dann warf er schwungvoll einen roten Umhang um sie, rückte die kleine, weiße Halskrause zurecht und sie übergab sich seinen Händen. Es war vollkommen ungewohnt, Männerhände auf ihrem Kopf zu spüren. Es gefiel ihr.
Dann klapperte die Schere und sie plauderten über das kommende Frühjahr. Ruck zuck waren die Haare ab. Er föhnte sie kurz, knetete einen weißen Schaum hinein und fertig war die Braut.
Er holte den Handspiegel und ließ sie ihren neuen Kopf bewundern.
Sie sah fremd aus!
Und sie dachte wie immer: „ Das bin Ich!“


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Der Frankfurter Kranz

Frankfurter kranz 2Stolz zierte der Frankfurter Kranz die Kaffeetafel, ragte hoch über der adretten Sahnetorte und erst recht über dem flachen Obstkuchen auf. Er thronte auf der traditionellen, cremefarbenen Tortenplatte mit dem kleinem Sockel. Eine Wonne!
Die Kaiserkirschen glänzten mit den tuffigen Buttercremetupfen um die Wette; der knusprige Krokant lag eng an der Außenwand an und ein heißes Messer hatte die hohe Pracht in sechzehn schmale Stücke geteilt.
Schon saßen sie mit wässrigen Mündern kuchengabelbereit um den Tisch herum. Es folgte das Hoch auf die Hausfrau, die gerade eben erst die Schürze an den Haken gehängt hatte. Vergessen war die Sorge um die Konsistenz der Buttercreme und das kleine Missgeschick beim Rösten des Krokants.
Der Frankfurter Kranz wurde gleich in der ersten Runde der Hälfte seines Umfangs beraubt. Nun konnte jeder sehen, was in ihm steckte: Die Schichten mit der weißen Creme, der gelungene Rührkuchen in der Gugelhupfform sowie die dezent verteilte rote Marmelade.
Er mundete! Ein Gedicht! Fragen an die Hausfrau. Das Rezept wurde preisgegeben.
Dann sprach der Hausherr. Seine Mutter hätte damals einen Frankfurter Kranz gebacken, da hatten sie sich alle die Finger nach geleckt. Und dann hatte sie dieses geheime Rezept ihrem Sohn, der Konditor war, weitergegeben. Und so war die Konditorei stadtbekannt geworden.
Peinliches Schweigen. Kritische Blicke auf die Kranzplatte. Kaum vorstellbar. Was musste das für ein Rezept gewesen sein? Noch besser als dieser hier? Aber nun war es heraus. Dem Frankfurter Kranz auf dem Tisch war ein Zacken aus der Krone gefallen.
Ein flackernder Blick in den Augen der Hausfrau, den niemand erhascht. Es gab einen Frankfurter Kranz der war besser als dieser hier. Einer, der in hohen Sphären über alle Frankfurter Kränze herrschte. Ein Super-Kranz. Ein Mega-Super-Kranz. Ein heiliger Kranz. Und alle hatten nun von diesem gehört.
Die Jahre gingen ins Land. Hin und wieder wagte sich trotzdem eine unbedarfte, mutige Hausfrau an den Frankfurter Kranz heran; die hohe Schule der Backkunst. Dafür wurden Rezepte gewälzt, das Internet befragt und Freundinnen konsultiert. Die Ergebnisse konnten sich sehen lassen. Stolz thronten sie auf Kaffeetafeln und heimsten ungetrübte Bewunderung ein.
Und dennoch. Kamen diese Frankfurter Kränze an den Unerreichbaren heran, von dem die Kunde zeugte? Wohl kaum. Jede Hausfrau kannte die Schwächen: Geronnene Butter im Rührteig, Eier nicht aus Bioqualität, die Kaiserkirsche zu wenig kandiert.
Es wurde verglichen. Konditoreien durchgefuttert nach dem Göttlichen Kranz. Doch auch hier: Fettige Buttercreme, gehaltlose Weißmehlrührkuchen, Krokant aus der Tüte.
Wo war der unirdische Geschmackszauber, den jeder Frankfurter Kranz so stolz versprach?
Er war verflogen…..in das Reich der Fabeln und Märchen….und nur der vermochte ihn zu erleben, der sich ganz auf den aktuellen Genuss konzentrieren konnte….
und dann würde er davon schwärmen……..