Von weitem sieht es aus wie ein friedliches Südseeparadies. Blaugrünes Wasser, kleine Basthütten, ein entspanntes Inselvolk. Doch beim näheren Hinsehen entdeckst du kleine Reihenhäuser, kurz geschnittene Rasenflächen und ein Volk von braven Bürgern. Nichts trübt die Idylle, selbst der Müll ist an seinem Platz und farblich sortiert.
Kultiviert, diszipliniert, gefühlsmäßig glatt rasiert marschiert dieses Volk durch die perfekte Welt. Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, keine Wolke trübt den Anblick. Sie lachen, freuen sich an ihrem Wohlstand und erziehen sich und ihre Kinder zu braven Bürgern.
Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen. Das ist die Devise. Und so kommen nur die guten, hellen, freundlichen, positiven Gefühle auf den Tisch und die dunklen, schrägen, negativen werden geschluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation.
Normalität des bürgerlichen Alltags. Sie singen es, sie lehren es, sie leben es: Die Guten ins Töpfchen – die Schlechten ins Kröpfchen.
Was schlecht ist, weiß jedes Kind: Aggression, Verweigerung, Ablehnung, Hass, Lüge und Gewalt. Gut ist, was konform ist. Was weiterbringt. Was alle gut finden.
Und so lebt das kleine Volk in seiner scheinbaren Südseeidylle. Beneidenswert diese Sonne und dieses Strahlen. Dieser Friede und diese Harmonie. Dieser Wohlstand und dieses Wohlergehen. Sie lachen und tanzen. Es geht ihnen gut.
Tief im Meer gähnt ein tiefer Abgrund, der all das schluckt, was ins Kröpfchen kommt. Angefüllt ist er mit stinkender, gärender Masse. Er schluckt und schluckt. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation. Die Miasmen eines ganzen Volkes sind in seinem weiten Maul gesammelt, nicht verdaut nur verwahrt. Ein Silo. Eine Grube. Kloake. Täglich wird es mehr und der Abgrund schluckt das Abgründige.
Sie ist jung und hübsch, schluckt brav die Abgründe hinab, die schlechten Gefühle. Das Non-Konforme. Das Ungeliebte. Das Schlecht-Gefühlte.
Sie würgt all das aus ihr Aufsteigende hinunter. Würgt den Hass, die Scham, die Lüge, den Zweifel hinab in das Dunkle, das irgendwo ist, das alles aufnimmt, das nicht gewollt, nicht gewünscht ist. Schluckt wie alle anderen. Lacht das wenige Glück dafür umso lauter hinaus. Ist ein glückliches Inselkind inmitten des eigenen Volkes von Armen-Schluckern und Besser-Essern.
Sie hört das Grollen zuerst, spürt wie das Meer sich zurückzieht, sieht in der Ferne zuerst einen tiefen Abgrund und dann ohnmächtig zu, wie dieser Abgrund das Meer frisst und die Luft darüber und die Zeit, die einfach stehen bleibt.
Das Inselleben geht weiter, lachend und wohlgesittet; niemand sieht das Meer schwinden und den Abgrund gähnen.
Sie steht am Strand. Sieht die Wand aus dem Abgrund aufsteigen, der ohne Ende zu sein scheint. Glatt kommt die Wand näher, türmt alles Abgründige über sich auf. Bedrohlich, wütend, mit nur einem Ziel: Das Festland zu überrollen mit seiner Anwesenheit und seiner Gewalt.
Und so tut es die Wand. Spült den Abschaum über das Inselvolk, speit die Miasmen aus, gischt das Schlechte und Bedrohliche hoch auf, knallt die minderen, verdrängten Gefühle auf die kleine Inselstadt. Tobt, zerschlägt das Gute, zerreißt das Edle, zerstampft die geliebte Ordnung. Zerfetzt die Illusionen. Zerbricht den Frieden. Wütet wild. Zeigt seine geballte Macht und Kraft. Wogt durch idyllische Straßen, zermahlt die Häuser, tötet das Volk, das das Abgründige verbannt hat.
Sie steht am Rand. Fassungslos. Es ist alles weg. Niemand mehr da. Kein Haus, kein Weg, kein Baum, kein Mensch. Nur sie. Allein.
Sie wartet das Tosen ab, den Sturm, das Töten. Dann ist es ruhig. Und friedlich. Wie noch nie.
Es ist nichts mehr da.
Alles, was jemals Wert gehabt hat, ist verschwunden. Nichts bleibt. Nichts. Nichts, an dem die Erinnerung könnte hängen bleiben. Kein bisschen von der alten Ordnung. Es gibt keine Ordnung. Keine vertraute zumindest. Was sie sieht, ist Chaos, eine ungeordnete Ordnung.
Wer ist sie ohne diese Ordnung? Wo sind die Geländer der Zivilisation? Wo die ehrwürdigen Devisen? Was ist ihr geblieben?
Das Schlechte hat sich über alles ergossen, lacht und kichert aus den Winkeln, grinst und feixt sie an. Fremd. Unheimlich. Eine neue Realität. Eine verdammte Realität hat sich aus dem Abgrund aufgemacht in ihr Leben. Das alte Leben ist verschwunden und sie ist allein mit dieser brutalen, gefährlichen Wirklichkeit, vor der man sie immer gewarnt hat. Die sie heruntergeschluckt hat und nie angesehen.
Nun glotzt von jedem Stein und jedem Baum das Schlechte sie an, das Tier, das gebunden gewesen war. Sie ist allein mit dieser Katastrophe. Das Gute ist verschwunden, verschluckt, wie einst das Schlechte. Nun ist das Schlechte sichtbar und ist das einzige, das sie ins Töpfchen legen kann – wenn sie es denn will oder vielleicht nun muss.
Die Welt hat sich verdreht. Dieses Böse ist nun da. Das Verdammte hat sich erhoben und das Gute und Glatte hinweggefegt. Wer wird sie sein, wenn sie nun davon isst? Von dieser Speise, die ihr die Natur nun anbietet, vor der man sie immer gewarnt hat? Soll sie verhungern? Edel und gut. Oder von diesen Schweinetrögen essen und überleben, rau und roh wie ein Tier?
Nicht nur eine Welt ist zerstört: Ihre Gute und Edle, sondern nun wird auch das Böse zu etwas Gutem, weil es sie überleben lässt, wenn sie von ihm isst.
In diesem Inferno von Kräften und Werten, von Gut und Böse, von edel und wertlos atmet sie ein, was ihr die Welt bietet. Isst verbotene Früchte, lacht über das Niedere, weil es das einzige ist, das ihr noch Anlass gibt. Hasst aus tiefstem Herzen diesen Abgrund und liebt ihn dennoch, weil er sie am Leben gelassen hat.
Sie ist die einzige Zeugin von der guten alten Zeit und auch von der Zeit, in der das Abgründige nun seinen Platz hat. Sie schreit ihren Hass und ihre Verachtung heraus, schluckt ihn nicht weiter hinunter, schreit so lange und laut, bis kein Hass mehr in ihr ist, nur noch die Liebe für das Glück und das Schöne.
Und legt sich eine Schicht Dunkelheit über diese zarte Liebe zum Leben, dann kämpft sie wie eine Löwin darum, dass sich das Dunkle wieder in seine Dunkelheit zurückzieht. Kämpft den Kampf der Menschheit. Den jahrtausendalten Kampf gegen das eigene Dunkel. Schreit dem Licht den Weg frei, der Liebe in ihrem Herzen.
In diesem Kampf erstarkt ihr Herz; liebt sie leidenschaftlich und intensiv. Die Liebe, die ihr nichts und niemand entreißen darf, macht sie zu einer Löwin, die sich mutig vor jedes dunkle Gefühl stellt. Und manchmal verwandelt sie etwas Dunkles in etwas Helles. Erlöst das Dunkle aus dem Abgrund, den sie selbst wieder und wieder füllt – was sie nicht will, denn sie weiß von der Macht des Abgrunds.
Sie will den Bann lösen, der über dem Hass liegt, der unverstandenen Liebe. Kämpft gegen die Leere des Lebens mit ihrem Herzen, mit dem Lachen aus den Vorratskammern ihres tiefsten Wesens, das nach Licht strebt, nach Glück und Vollkommenheit.
Sie kämpft den Kampf der Liebe, verwandelt das Dunkle, erhebt das Schwarze ins Licht, geht den Weg, der das Finstre akzeptiert, mit Liebe umfängt und hinauftransponiert in Helligkeit und Glück.
Und dennoch, aus dem Abgrund der Natur steigen Tag für Tag und Nacht für Nacht die unterdrückten Gefühle einer verblendeten Menschheit hinauf, die vermessen geglaubt hat, dass durch Ignoranz und Knechtschaft das Gute über die Menschheit käme.
Sie steht dort mit dem kleinen Schwert ihrer Liebe und berührt damit die kleinen Pflanzen, die aus ihrem eigenen dunklen Abgrund wachsen. Küsst sie und reinigt sie von dem harschen Urteil, das aus ihnen eine Monsterpflanzen macht. Pflegt sie und gewinnt Vorteil aus der Art der Pflanzen zu sein. Nutzt deren Stärke und Kraft, bindet sie ein in ihren Kampf gegen Wertung und Urteil, die den Abgrund erst möglich gemacht haben.