Ann.Jan.Fun.

Musik meiner Gedanken


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Warten

Manchmal ist das Warten langweilig. Dann geht es nicht schnell genug. Dann drängt die Zeit, aber die Umstände haben eine andere Zeit.
Manchmal ist Warten spannend. Dann geht die Zeit schnell vorbei.
Manchmal ist Warten das Leben. Dann passieren die Dinge wie sie passieren. In ihrer Zeit. Dann sind Nuancen spürbar, aber keine großen Veränderungen. Dann entwickeln sich die Dinge in ihrer Zeit.
Warten wird  zum Horchen auf das, was sich zeigt.
Wie das Gras wachsen.
Warten wird  andächtiges Tun, im Respekt vor dem, was sich zeigen will.

Kein Vogel zerbricht die Schale, die es schützt, in Eile und Ungeduld.
Kein Wind beschleunigt sich, um schneller dort zu sein.
Kein Glück wächst in Hast und Eile.

Warten.
In der Stille verändert die Zeit ihr Tempo.
Es gibt kein Warten.
Nur Offenbarung.


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Kontrolle

Waschzwang entspringt dem Wunsch nach Kontrolle. Ich wasche mich ohne Kontrollwünsche. Ich mache das mit der Kontrolle anders:

Man nehme eine irgendwie geartete Weltanschauung, die in sich geschlossen ist, finde den Einstieg und schon ist man in einem Denkmodell, das die Welt erklärt. Alles ist richtig innerhalb dieses Modells. Solange systemkonform gedacht ist, ist man richtig, die Welt erklärbar. Alles unter Kontrolle. Der daraus entstehende Optimismus lässt einen glauben, dass man auf dem richtigen Weg ist. Man ist vorsichtig darauf bedacht, den richtigen Weg nicht zu verlassen. Es wäre nicht richtig und man würde sich außerhalb der Kontrolle bewegen.

Wenn das System sich in sich totgelaufen hat, bringt man Titanenkräfte auf, um das System zu erhalten. Man sollte zwar von einem toten Pferd steigen, aber das hieße, zu Fuß weitergehen. Wer will das schon? Also wird das Pferd lebendig geredet. Usw. Bis die nüchterne Feststellung kommt, dass das Pferd tot ist.

Ganz ohne Pferd und Weltanschauung ist der Mensch ein kleiner Wicht. Er hat keinen Bogen mehr über die Welt geschlagen – zumindest noch keinen neuen – so dass die Welt eine Ödnis ist. Gefahrvoll. Unkontrolliert. Leider hat der Mensch in seinem bisherigen System verlernt, auf seine Instinkte und Bedürfnisse zu hören.

Nun wird der Mensch zum Höhlenwesen. Denn in der Höhle ist der Mensch geschützt. Er igelt sich ein. Lässt die böse Welt, der er ohne die Kontrollinstanz einer Weltanschauung nicht an sich heranlassen möchte, einfach außen vor. Er betrachtet seinen Nabel, sucht seine Mitte, möchte ein System aus sich heraus schaffen. Ganz aus sich heraus. Ohne mentalen Überbau.
Dabei hilft ihm das Yoga, die Meditation, die Achtsamkeit usw. Er fängt damit bei Null an. Denn er ist ein Mensch, der diese Dinge bisher außen vorgelassen hat. Ein Stümper in eigener Sache.

Auch wenn seine Betrachtungen ihn zu Einsichten zwingen, die ihm womöglich unangenehm sind, erlischt die Hoffnung auf eine selbst-kontrollierte Zukunft in ihm nicht.
Ja, das ist wahrscheinlich sein größter Wunsch: In einer Welt, in der das Chaos Gesetz ist, den Durchblick zu haben und die Kontrolle.

Und so werden schnell neue Systeme generiert, ausprobiert, verteidigt.
Bar jeglicher Kontrolle, den Winden ausgesetzt, will keiner sein. Ein jeder hat sein ganz persönliches Welterklärungsmodell, das ihm wie eine Bibel  Richtschnur ist.
Niemand möchte leben wie ein Tier, das auch in einer Höhle wohnt und gerne im Rudel oder der Herde lebt.
Niemand möchte die Schlichtheit seiner Existenz unwidersprochen akzeptieren.

Und so schaffen wir Welten. Für jeden Menschen eine eigene. Jegliche Sinngebung entspringt dem Wunsch, das Ganze zu verstehen und sich zu positionieren. Den eigenen Platz auf dem Planquadrat der eigenen Wahrnehmung einzunehmen und zu verteidigen.

Und niemand weiß, wie die Welt wirklich ist.


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Was bleibt

Wenn ich mich umschaue und zähle, was mir gehört, so bleibt nicht viel:

Mein Leben.
Habseligkeiten.
Menschen, die unstet in ihren eigenen Bezügen leben.
Nein, die Menschen sind nichts, was mir gehört. Ich kann sie nicht dazu zählen.
Ebenso nicht die Habseligkeiten, die ich mit meiner Energie unaufhörlich an mich binden muss.

Also bleibt nur das Leben. Das Geschenk auf Zeit.

Natürlich gehören mir auch meine Träume und Illusionen, die Hoffnungen und die Wünsche.
Diese in feine Strukturen geformten Ausdrücke meines tiefen Selbst.
Ihre Wirklichkeit ist präsenter als die Dinge, die mich umgeben. Sie sind die Würze in meinem Leben.
Ich weiß von der Zartheit ihrer Realität, die zerplatzen kann wie eine Seifenblase

Es bleibt also wieder nur das Leben, der Atem, der mich nährt; der Atem, der mir treu bleibt bis zur letzten Sekunde.
Warum ehre ich ihn so wenig, diesen Freund?

Auch Blumen atmen; in friedlicher Existenz; bescheiden auf einem kleinen Flecken Erde verwurzelt.
Wir sind uns sehr gleich. – und doch:
Ihre Schönheit und Anmut sind Ausdruck von kosmischer Übereinstimmung. Diese Wesen leben einem natürlichen Lauf folgend einfach das Leben.

Nur ich, mit meinen Gedanken und Wünschen versuche meiner Existenz zu entfliehen. Greife nach den Sternen, tauche in Abgründe und Tiefen, sehne mich nach Weite und Glück.
Mir ist meine Existenz nicht genug. Doch trotz aller Anstrengung bin ich nicht mehr.
Das ist die Tragik meines Menschseins.

Ein bescheidenes Resümee.

Nur manchmal atmet mein Atem einen tiefen Zug Unendlichkeit. Mein tiefstes Glück.
Eine weitere Illusion?


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Die Illusion der Mitte oder Warum ich nirgendwo zuhause bin.

Goran, Feinmechaniker der Feinfrequenztechnologie, tunte die etwas aus dem Normmaß geratene Frequenz wieder auf das durchschnittliche Maß. Das war sein Job. Zu weit vom Themengebiet abweichende Frequenzen hatte er so zu justieren, dass sie wieder als klares Thema erkennbar war. Es waren die Vermischungen von mehreren Frequenzen, die immer wieder diese Artefakte auslösten.
Schließlich wollten die Leute klare Gefühle. Trauer musste als Trauer erkennbar sein. Freude als Freude, Neid als Neid und so weiter. Es gab zwar Überschneidungen zum Beispiel Freude und Mitleiden oder Schmerz und Freude, aber das lag am frei wählbaren Programm. Man konnte bis zu vier Emotionen gleichzeitig herunterladen, ohne dass ein Gefühl dabei unterging. Aber vier war die absolute Obergrenze.
Zum Beispiel war die Kombination von Liebe, Eifersucht, Nörgelei und Versöhnungsepos sehr beliebt. Oder die Kombination von Workaholic, Freude, Wichtigtuerei und Depression. Allein mit vier Optionen konnten sich Menschen für Wochen versorgen. Gerne wurden dann die einzelnen Gefühle hintereinander geschaltet, um dann final zu einem  Crescendo anzuschwellen und in ein emotionales Chaos zu stürzen. Emotionales Chaos war dann aber bereits eine neue Gefühlsbatterie, die auch gerne zu Weihnachten oder Silvester genommen wurden. Dann in Kombination mit Friedenswilligkeit, Familiennestwärme und Heile Welt.

„Mensch, ist die Welt voll Scheiße!“, knallte er seinen Handschuh auf den Tisch. „Voll abgefahren, diese Kacke aus Gefühlen. Kann man den nie seine Ruhe haben, Alter?“ Er schaute Tamira aus einer Mischung von Aggression, Langeweile, Überdruss und Enttäuschung an. Diese Mischung hatte er sich aus dem Netz runtergeladen.
„Baby, nimm dir ne Battery Chill out. Hab ich mir auch gerade reingezogen. Cooler Mix aus Easy-going, Gut-drauf, alles–ist-gut-so und Joker.“ Sie reichte ihm das Päckchen und hielt es ihm offen hin. Er zögerte und ranzte. „Watt soll der Scheiß?“, griff aber trotzdem hinein und riss die Verpackung vom obersten Tütchen ab.
Wie auf allen Anleitungen geschrieben steckte er zuerst seine Nase hinein und sog fest an dem feinen Duft, der ihn sofort in die Welt von Sommer, Sonne und hellem Licht zog. Dann hörte er den Ton, besser gesagt die vier Frequenzen, die das Chill-Out-Päckchen ausmachten. Sie waren kaum zu hören, diese Töne, aber sie wirkten auf ihn sofort. Er spürte, wie er an den angeforderten Gefühle andockte und von den vorherigen Frequenzen runterkam.
So war das immer. Das aktuellste Gefühl, war das dominante. „Hey, Tamira, schön dich hier zu haben. Ist ja gleich Feierabend!“, bemerkte er mit dem Blick auf die Uhr. Ja, Chill-out war ein gutes Päckchen.

Er stand auf und bewegte sich ins Lager. Computergesteuerte Greifarme beherrschten die Logistik. Milliarden Päckchen wurden täglich verschickt. Die Leute konnten ohne sie nicht leben. Irgendeine Frequenz war immer gefragt. Ohne ging gar nicht. Die Päckchen hatten den Vorteil, dass sie unabhängig vom Smartphone konsumiert werden konnten. Zum Beispiel – was selten vorkam – in Gegenden ohne guten Empfang. Oder man verschenkte sie oder legte sich Vorräte in die Schulblade. Immer das passende Päckchen zuhaben, bedeutete, die Kontrolle über die Emotionen zu haben.
Päckchen waren auch hochwertiger als die Emotion-To-Go-Päckchen vom Smartphone. Die hohen Frequenzen waren das Problem und ebenso der feine Duft. Ja, besonders der Duft konnte von den Herstellern nicht genau dosiert werden. Die Emotionen waren danach immer etwas trüber als in der Wirklichkeit mit den Päckchen.
Nur zu Großereignissen, wie Weihnachten, Fußball-WM, Kollektive Katastrophen-Erlebnisse wurde die Qualität besser. Dann brauchten die Anbieter nur einen Duftstoff freizugeben, so dass es einfacher wurde, die gute Qualität von Gefühlen zu behalten. Siegestaumel war während der Weltmeisterschaften der Renner, aber auch kollektives Weinen. Das war aber immer gekoppelt mit der passenden Portion Hoffnung, Kampfgeist und starkes-Ego. Zu hohe Dosen von einem Gefühl – so hatte man herausgefunden – waren im Nachhinein schwerer zu neutralisieren.
Zum Glück hatte man noch nicht von dem Ernstfall Gebrauch machen müssen. Die geheime Superwaffe waren Frequenzen über alle Sendemasten und gestreute Düfte von Helikoptern. Diese Maßnahme waren streng geheim und nur dem Militär vorbehalten. Sie galten als hochsensibel, beinhalteten sie doch Emotionen wie Kollektiver Kampfgeist, kollektives Schweigen und kollektive Tatenlosigkeit.

„Ich mach für heute Schluss, Baby!“, rief er Tamira zu und verließ das Labor. Draußen fegte ein rauer Wind. Naja, das Wetter hatten sie noch nicht im Griff. Aber es war egal. Mit dem Chil-out-Päckchen ließ sich jedes Wetter ertragen.
Er ging einkaufen. Etwas planlos, ja lustlos. – Die Wirkung ließ nach und er suchte auf dem Smartphone nach einer passenderen Emo. Ja, die war gut: home-action. Er tippte den Code und hielt die Nase an die kleine Düse. Home-action. Home-action begann er leise zu summen. – Auf der gleichen Frequenz, die fast unmerklich aus seinem Smartphone aufstieg. Jepp, das war gut!
Er schob den Einkaufswagen geschickt durch die Warentürme und legte wohlbewusst seine Vorräte in den Wagen. Es sollte etwas Gutes geben. Heute vegan und indisch. Dann dachte er noch an die Scheuermilch, an den Entkalker und sogar an Blumen.
Neben ihm schob eine ältere Frau ihren Wagen an seinem vorbei. Auch sie trällerte auf seiner Frequenz. „Schöne Blumen! Haben Sie auch an den Schnittblumendünger gedacht?“ Er bedankte sich und schob den Wagen in Richtung Blumenpflegemittel.
Dort saß ein Mann mit einem Rollstuhl und mühte sich mit der Tastatur seines Smartphones ab. Sein Gesicht war ausdruckslos. Wahrscheinlich war er schon zu lange ohne Emotions unterwegs. Goran schaute ihm zu. Keine Mimik verriet, was in dem Mann vorging. Er sah aus wie versteinert. Goran kannte die Symptome: Der Mann stand kurz vor dem emotionalen Kollaps. Es war seine Pflicht, ihm zu helfen.
Er wühlte in seiner Tasche. Dor fand er ein Päckchen Pack-es-an!. Er riss das Siegel ab und hielt dem Mann die Tüte unter die Nase. Es dauerte keine Sekunde. „Hey, junger Mann, geben Sie mir bitte die grüne Flache von da oben! Ja, danke. Und lassen Sie mich jetzt bitte hier vorbei, ich hab es eilig.“ Er rangierte den Rollstuhl an ihm vorbei und grüßte mit einem energischen Blick und mit der Hand an einer vermeintlichen Hutkrempe. Ja, Pack-es-an! machte energisch, tatkräftig, und zielorientiert.

Dann sah er sie. Wunderhübsch, große Augen, sanfter Blick. Sein Typ. Er änderte seinen Code und nahm die Mischung first-love. Bereits beim Duft fühlte er sich leicht und beschwingt, die Frequenz brachte ihn dann auf das angestrebte Level. Ein wenig scheu, verlegen, etwas fordernd, ganz natürlich. Das zog immer. Die anderen Love-Mischungen hob er sich für später auf.
Der unbeabsichtigt, absichtliche Rempler, die kullernden Tomaten aus der Tüte, ihr erschrockener Blick, sein jungenhaftes Lächeln. Er fühlte die Woge der Mischung, hatte keine Schwierigkeiten das erste Wort zu finden, dann kam die Frage mit dem Kaffee-trinken und ja, ob sie nicht 36 54 drauf hätte……Der Code, der junge Mädchen mutig machte.
Die meisten Mädchen machten an diesem Punkt noch mit. Diese hier aber schaute ihn aus  großen Rehaugen an und wandte sich von ihm ab. Er tankte schnell 25 67, die Battery, die er gerne beim Sport nahm: Ausdauer, Kampfgeist, Gewinnerzuversicht und Zielorientiertheit und lief ihr nach.
„Hey, du! Warte mal!“ Er holte zu ihr auf. „Ich hab dich hier noch nie gesehen. Bist du neu hier?“
Wieder ein Blick aus tiefen Rehaugen. Sie wirkte belustigt, wach, ruhig und ernst. Eine Mischung, die es als Battery so nicht gab. Vielleicht hatte sie eine unbekannte Quelle. Er schlug ihr vor, 35 46 zu probieren. Stimmung für leichten Anfang. Sie schüttelte mit dem Kopf.
„Ich bin zu Besuch.“, überraschte sie ihn. Zu Besuch. Wer kam noch zu Besuch? Sie hatten doch alle ihren Platz gefunden? Kommunikation lief über skype, seit Jahren schon, Gemeinsamkeit entstand durch die Global-batterys. Besuche waren überflüssig geworden. Niemand hatte ein zuhause, das andere einlud. Es nicht notwendig, in anderen Räumen zu sein. Trotzdem hatten sie alle viel Spaß miteinander. Vor allem wenn man vor einer Skypesitzung die 54 78 nahm.
Er begleitete sie ein Stück. „Bei wem bist du zu Besuch?“ „Bei euch.“, sagte sie ruhig. „Ich bin auch schon da.“ Sie zeigte auf ein Hotel, das normalerweise Politikern diente, wenn sie Liveauftritte inszenierten.
„Bist du Politikerin?“, fragte er forsch. – 25 67 wirkte noch. Er klickte auf repeat und spürte die gleiche Frequenz nun noch intensiver. Hier war etwas, was es zu entdecken gab. „Nein, ich bin eine Unabhängige.“
„Wow!“ Damit hatte er nicht gerechnet. Unabhängige kannte er nur aus Filmen. Sie waren geheimnisvoll. Er hatte nicht geglaubt, dass es sie in echt gab. Er machte eine Schritt zurück, klickte mechanisch auf check-the-mood (Ratio einschalten, Röntgenblick, Pokerface, Unerschütterlichkeit) und inhalierte kurz.
„Eine Unabhängige! Aha. Und was machst du hier?“
„Im Moment schau ich dir auf chek-the-mood zu. Eben war die 25 67 und davor warst du auf first-love.“ Er schluckte. War das hier ein Artefakt? Er ließ sich seine Unsicherheit nicht ansehen. Klar. Pokerface wirkte.
„Komm, ich zeig dir was!“ sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn ins Hotel hinein. Sie gingen auf ihr Zimmer. In einem unauffälligen Moment tippte er 25 46, das Mittel für starke Männer. Sie lächelte ihn an. Etwa mitleidig, schien es ihm. „Hier! Guck’s dir an!“
Sie hielt ihm eine Art Landkarte unter die Nase. Die sah aus wie ein Gehirn. „Hier kannst du sehen, auf welcher Frequenz welcher Teil deines Gehirns läuft!“ Er wurde neugierig. In den verschiedenen Teilen des Gehirnbildes waren die Codes abgebildet. Die Frequenzen. Er kannte sie alle. Hatte alle schon x-mal durchprobiert. Nur eine solche Karte war ihm neu.
„Und nun? Was soll ich damit?“ Er war ungeduldig. Dieses Spiel war nicht mehr in seiner Kontrolle. Er tippte die 33 33. Das Mittel gegen Kontrollverlust. Er roch den feinen Duft, hörte den Ton und wurde ruhig. „Was soll ich damit?“ wiederholte er.
„Das sind die besetzten Gebiete.“ Erklärte sie. „ Hier zum Beispiel: Frequenz 78 65. Das Gefühl, nicht dazuzugehören. Oft kombiniert mit 23 56 Einsamkeit, 56 79 Minderwertigkeit und 78 54 Depression. Diese Battery haben sie versucht, herauszunehmen, aber sie läuft zu gut. Es gibt viele Menschen, die sich damit identifizieren können. Oder hier: 68 49 Verliebtheit. Eine sehr beliebte Frequenz. Nur schade, wenn die Wirkung nachlässt. Darum oft zusammen mit Eifersuchtsdramen, Langeweile, Fremdgehen.“
Sie dreht die Karte ein wenig. „Schau: Da bist du gerade: Frequenz Starker Mann. Und – fühlst dich gut?“
Er nickt beiläufig, kniff ein wenig die Augen zusammen und stemmte die Arme in die Hüften. „Und was soll ich jetzt damit?“ Sie lächelte. „Solange du ein Gefühl brauchst, um deine Mitte zu fühlen, deine Identität, wirst du betrogen. Wir Unabhängigen sind frei davon. Darum sind wir auch nirgendwo zuhause. Nur wer ein Gefühl braucht, um sich zu identifizieren, der braucht die Battery. Braucht ein Zuhause und sonstige Sicherheiten.“
Er legte die Hand an sein Kinn, setzte sich in Posen wie ein Held und überdachte die Sache. „Was meinst du mit Identität?“ fragte er dann, den Blick in die Ferne gerichtet. „Nun,“ fing sie an, „sobald du einen Code eintippst und den Duft riechst und die Frequenz hörst, kommst du in ein Gefühl. Dann aktiviert sich dein Gehirn und du sagst zu dir: Ich bin! Geht das Gefühl vorbei, brauchst du die nächste Dosis. Wir Unabhängigen fühlen wenig. Denn wir haben keine Mitte. Es ist überall das gleiche zu erleben, nur die Frequenz ist austauschbar.“
„Ich bin ein ganzer Kerl und ich weiß, wer ich bin!“ konterte er. „Die Battery bestätigt mich nur. Tut mir gut. Dann fühle ich mich richtig.“
„Natürlich!“ Rehbraune Augen sahen ihn an. „Wer eine Identität haben will, braucht immer Nachschub. Wir Unabhängigen sind auf keiner Frequenz zu finden. Wir sind. Das ist uns genug“
Goran spürte wie die Frequenz von 25 46 nachließ. Er tippte einen weiteren Code ein. So ein Mist, vertippt. Statt: Ich-bin-ein-Intellektueller hatte er nun Ich-lass-mich-verführen. Die beiden Codes waren einfach zu dicht beieinander.
„Erzähl mir mehr!“ säuselte er. Sie lächelte. Wusste, welche Frequenz gerade angetriggert wurde. Schüttelte den Kopf und sagte: „Nein. Das reicht für heute. Ich bin nicht hier, um deine Stimmungen zu bedienen. Vergiss nicht: Ich bin eine Unabhängige. Geh. Jetzt!“
Ihr Ton erschien ihm barsch und lieblos. Sie jagte ihn weg. Jetzt. In diesem Moment von Nähe und Zweisamkeit hier in diesem Hotelzimmer. „Hey, Süße, komm zu mir! Wir könnten es hier schön haben!“
Sie schüttelte den Kopf, nahm ihren Mantel und verließ das Zimmer. Klarer konnte eine Abfuhr nicht sein. Er legte versonnen den Kopf in den Nacken und genoss die Wirkung von Ich-lass-mich-verführen. Sie war weg. Doch das Gefühl blieb. Er änderte auch den Code nicht, obwohl das möglich gewesen wäre. Die Entspannung, die prickelnde Erwartung, das Geheimnisvolle kostete er gerne noch ein wenig länger.
Nach einiger Zeit spürte er, wie die Wirkung nachließ. Er fühlte keine Sensation mehr. Es war Zeit für einen neuen Code. Er wählte wieder Chill-out und ging nach Hause.

Den Abend verbrachte er mit verschiedenen Batterys bis er dann in einen traumlosen Schlaf fiel, der bis zum Morgen dauerte.
In dem kurzen Moment zwischen Wach-Werden und Wach-Sein – dem Moment, in dem er für gewöhnlich seine drei ersten Tagescodes programmierte, erinnerte er sich an die seltsame Begegnung mit der Unabhängigen. Auch die Karte mit den Gehirnarealen und den Frequenzen kam ihm wieder in den Sinn. „Wer war sie?“
Er hoffte, ihr nochmal zu begegnen. Er stärkte  sich mit My aim, eine phantastische Battery voll Entschlossenheit, Geradlinigkeit und Ernsthaftigkeit. Dann sprang er in seine Jeans und stand eine Viertelstunde später im Hotel. Sie sei noch da, erfuhr er und ließ sich beim Portier telefonisch bei ihr anmelden.
Sie empfing ihn. Der Koffer stand bereits gepackt neben der Tür. Rehaugen fixierten ihn. „Und?“ fragte sie. Mehr nicht.
„Wer sind die Unabhängigen?“ stieß er hervor. „Wer seid ihr? Was macht ihr?“
Sie lächelte. Ein wunderbares Lächeln. „Wir sind frei von jeglichem Code. Wir produzieren unsere Gefühle in unserer eigenen Intensität. Und nicht so wie du und viele andere per Battery.“ Er schaute sie entschlossen und durchdringend an: „Wie kannst du da die Kontrolle bewahren? Ohne Code geht alles ins Chaos!“
Sie schüttelte den Kopf: „Du hast mich gefragt, wer wir Unabhängigen sind. Du magst gerne die Kontrolle haben und hast Angst vor dem Chaos. Wir Unabhängigen lieben das Chaos. Darum müssen wir nichts kontrollieren. Ja, es ist uns egal, welches Gefühl gerade vorherrschend ist. Denn sie unterscheiden sich ja nur in der Frequenz.“
Er schluckte. So einfach ließ er sich nichts vormachen: „Was ist mit deiner Identität? ICH brauche die Codes, um mich zu spüren und zu wissen, wer ich bin. Was hast du denn für eine Identität?“ Er packte sie am Arm. „Oder bist du weak? Schwach. Unfähig diese Intensität auszuhalten, die Gefühle in einem wecken?“
Sie ließ sich nicht beeindrucken. „Wir Unabhängigen haben keine Identität. Das Gefühl des Augenblicks ist in unseren Augen die Illusion von einer Mitte, von einer Identität. Wir sind Geschöpfe ohne Zentrum. Wir sind amorph.“
Er ließ sie los. „Amorph!“ bellte er. „Konturenlos! Keine Geradlinigkeit! Kein Ziel! – Das ist amorph!“
Sie wartete. Ließ einen Moment der Stille verstreichen und nahm ihren Mantel. „Wenn dein Code gleich abgeklungen ist, wirst du anders über mich denken.“
„Wohin gehst du?“ er packte sie wieder am Arm. „Bleib!“
Sie schüttelte den Kopf. „Wie gesagt: Wir Unabhängigen haben keine Mitte. Und darum auch kein zu Hause.“
Er ließ sie los und gehen. Er ahnte, dass die Unabhängigen weiter und reicher waren als er mit seinen Batterys. Er tippte die 34 67. Tragic moments.


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Flüchtig

Und wenn wir schreiben
um zu bleiben,
dann bleibt nur eine Kerbe im Stein,
ein Klecks Tinte auf Papier,
ein digitaler Abdruck im wordwideweb.

Und wenn wir reden
um uns mitzuteilen,
dann bleibt nur ein Lufthauch,
eine kleine Teilchenverschiebung,
ein minimaler Abdruck auf der Netzhaut unserer Wahrnehmung.

Und wenn wir lieben
um uns zu verströmen,
dann bleibt ein schönes Gefühl,
ein flüchtiger Moment von Nähe und Verbundenheit,
ein Stück Weite und Unendlichkeit.

Flüchtig sind wir; wie kleine Partikel im Weltall.
Flüchtig sind wir; Bewusstseinszellen einer amorphen Existenz.
Flüchtig wie ein Edelgas ohne Schwere und Bleiben.


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Ich bin so viel

Ich bin so viel.
Wohin mit mir?

Ich bin so viel.
So grenzenlos
ohne Zentrum
an vielen Orten
in vielen Aspekten
hab keine Mitte
bin dezentral
heute hier und morgen da.

Bin täglich aufs Neue neu verstrickt
Neuronal geschaltet, verknüpft.
Und du bist da nicht anders.
Uns so bandeln wir uns an.
Reißen Fäden ab und weben neue.
Verstärken Bande, die uns teuer.
Zerfasern uns nach einiger Zeit,
wenn es uns drängt, woanders zu sein.
es muss kein Ort sein, nur ein Gefühl.

Ich bin so viel.
Wohin mit mir?
Etwas in mir sucht Ausdruck im außen.
Sollte ein Künstler werden,
den man eben nicht versteht.


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Wie immer. Ich!

Sie hatte den Termin beim letzten Mal schon festgemacht. So machte sie es immer. Das war praktisch, denn diese kleinen Routinen im Alltag gaben ihrem Leben Stabilität.
Der Tag war gut gewesen. In ihrem Job lief alles gut, es gab keine Beschwerden und die Arbeit mit den Kollegen machte Spaß. Sie liebte solche Tage, die so rund liefen wie ein Eierpfannekuchen.
Ja, sie war erfahren und arbeitete die neuen Mitarbeitern ein.
Sie zog sich an diesem Morgen extra keinen Rollkragenpullover an. Das machte sie immer so. Ein T-Shirt und darüber eine Jacke. Das war praktisch und sah sowohl im Job als auch hinterher auf dem Frisörstuhl gut aus.
Pünktlich machte sie Feierabend. Es waren zwei Stationen mit der U-Bahn, dann war sie da. Die Leuchtreklame blinkte, drinnen sah es gemütlich aus. Sie mochte das Ambiente dieses Salons. Es zeugte von gutem Geschmack, etwas Luxus und Wellness. Sie ging bereits seit Jahren hierhin; war Stammkundin. Es war klar, dass sie immer von Susanne bedient wurde. Die kannte ihre Haare, wusste wie sie sie gerne trug und war eine angenehme Person, die sie am Feierabend gut ertragen konnte.
Sie kam sofort dran. Der blauschwarze Umhang schwang sich um ihren Körper, die kleine Krause am Hals wurde mit zarten Händen befestigt und sie lehnte sich entspannt in das Kopfbecken zurück. Die Massage der Haarwäsche war wie immer göttlich. Susanne nahm sich viel Zeit. Vielleicht lag es auch daran, dass sie ihr immer ein gutes Trinkgeld gab.

Sie versank in wohliges Schnurren und ließ den Tag Revue passieren, der so rund und glatt gelaufen war wie im Bilderbuch.
Susanne kämmte ihre Haare streng nach hinten und blickte sie im Spiegel gegenüber lächelnd an.
„Wie immer?“ Sie nickte. Ihre Haare trug sie seit Jahren auf die gleiche Weise. Sie waren ihr Markenzeichen. Daran wollte sie nichts ändern.
Die Schere klapperte und sie genoss das Schweigen, das entstand während Susanne ihre Haare schnitt. Sie hielt nicht viel von Small-Talk während dieser Prozedur. Susanne sollte sich auf die Frisur konzentrieren. Sie wollte sie nicht ablenken.
Außerdem genoss sie das gute Gefühl von Nähe und Vertrautheit, währenddessen sie ihren Gedanken nachhing.
Sie öffnete die Augen, als die Schere nicht mehr klapperte. Susanne steckte den Föhn ein und begann, ihre Haare tuffig und locker zu föhnen. Zum Schluss kam wie immer dieses gut duftende Spray hinein, das sie wie eine Diva riechen ließ.

Dann war alles vorbei, der Umhang wurde weggezogen und sie fühlte sich gut, als sie sich im Spiegel betrachtete. Susanne zeigte ihr die Haare mit dem Handspiegel noch von hinten und so wusste sie, dass sie rundherum gut aussah.
Sie dachte: „Wie immer. Das bin ich!“
Sie zahlte. An der Kasse stand die Inhaberin und machte ihr ein Kompliment. Wie jedesmal. Sie liebte das. Es bestätigte sie, bevor sie dann endgültig den Laden verließ und in die winterliche Kälte hinaustrat.

Sechs Wochen später fransten die Haarspitzen wieder aus. Immerhin hatte sie den Termin. In dieser stressigen Zeit hätte sie auch nicht warten wollen. Es reichte, was im Job für eine Stimmung war. Ständig ging das Telefon, E-Mails klickten den ganzen Tag und die Projekte zogen sich wie Kaugummi. Es gab keinen Erfolg. Die Mitarbeiter nervten ziemlich. Ständig war einer krank. Sie selbst schleppte sich auch mit Grippe in das Büro.
Ihr Chef ließ seinen Ärger an ihr aus. Sie sei zu langsam. Er würde von ihr mehr erwarten. Das brauchte sie jetzt wirklich nicht. Sie spürte selbst, dass sie dieses Tempo überforderte. Er wollte alles gleichzeitig, am besten gestern. Ohne Rücksicht auf Pausen oder Feierabende.
Sie dachte an die Zeit als es noch keine E-Mails gab und das Büro morgens mit der Post versorgt wurde und gut war. Was für eine Raserei.
Sie hatte Kopfschmerzen und manchmal beschlich sie die Angst, dass es etwas schlimmes sein könnte. Sie war jetzt in dem Alter.
Es war schwer, sich um fünf Uhr abzuseilen und die zwei Stationen zum Friseursalon fahren. Die Leuchtreklame am Schaufenster stieß ihr als etwas zu grell auf. Wieso war ihr das nicht schon früher aufgefallen?
Im Salon war es voll. Trotz Termin musste sie warten. Sie mochte das nicht; fühlte sich wie auf dem Abstellgleis. Das brauchte sie jetzt nicht.
Dann kam Susanne und führte sie zu einem anderen Platz, als dem, wo sie sonst immer frisiert wurde. Es störte sie. Sie wollte es so haben wie immer. Aber sie sagte nichts und ertrug es einfach.
Der Umhang wurde übergeworfen und die kleine Krause an ihrem Hals befestigt. Susanne rückte das Haarwaschbecken hinter ihren Kopf und begann mit der Massage.
Sie saß unbequem, das Wasser war zu kalt und die Finger der Frisöse taten ihr weh. Es war unangenehm. Dazu kam, dass sie sich unwohl fühlte wegen dieses Tages. „Vielleicht bin ich mittlerweile zu alt für diesen Job“, dachte sie.
Sie kam mit ihren Überlegungen nicht weiter. Die Haarwäsche war zu Ende und das „Wie immer?“ kam heute durch nicht lächelnde Lippen. Sie nickte. Was sollte sie auch machen? Sie hatte sich entschlossen, die Haare auch Zukunft so zu tragen – obwohl sie gerade der leise Zweifel beschlich, ob die Frisur sie nicht zu anbiedernd jung aussehen ließ.
Die Schere klapperte schweigsam und ihr Blick fiel in den Spiegel. Sie sah, wie sich über der weißen Halskrause ihre Haut unvorteilhaft zusammenschob. Das sah aus, als wäre sie zwanzig Jahre älter.
Dann kam der Föhn, das Spray und der Umhang wurde weggezogen wie bei einem Zauberer auf der Bühne.
Sie war nicht zufrieden mit dem, was sie sah. Die Haare waren kürzer als sonst, zu kurz. Ihre kleinen Geheimratsecken wurden sichtbar. Sie fand sich alt und unvorteilhaft zurechtgemacht.
Sie gingen zur Kasse und die Inhaberin rechnete mit ihr ab. Es gab das obligatorische Kompliment. „Wie verlogen“, dachte sie.
Kurz angebunden ging sie hinaus in die winterliche Kälte und zog die Tür zu. Die klemmte und während sie zog, riss ein Teil von ihrem Fingernagel ab.
Sie dachte: „Wie immer. Das bin Ich!“

Nun war Frühling geworden. Überall quoll das frische Grün aus den Ritzen und dem Grau. Bunt schillerten die Farben des Himmels, der Blumen und der Kleidung. Auch im Büro hatten sie kreatives Chaos. Neue Ideen sprudelten nur so hervor und die Stimmung zwischen allen war großartig. Sie war kreativer als jemals zuvor, zog eine neue Idee nach der anderen aus der Schublade und hatte Erfolg.
Sie sah im Vorbeiflug auf ihrem Kalender, dass ihr Termin bei Susanne anstand. Sie überlegte.

Und sagte ab.

Trotzdem machte sie pünktlich Schluss und eilte aus dem Haus.
Nebenan hatte ein neuer Frisör eröffnet. Cooles Outfit. Extraordinär.
Sie trat in den Laden und wurde von einem jungen Mann begrüßt. „Ich möchte einen neuen Kopf. Haben Sie eine Idee?“, fragte sie.
Er nickte und erklärte ihr, was er mit ihr vorhatte.
Dann warf er schwungvoll einen roten Umhang um sie, rückte die kleine, weiße Halskrause zurecht und sie übergab sich seinen Händen. Es war vollkommen ungewohnt, Männerhände auf ihrem Kopf zu spüren. Es gefiel ihr.
Dann klapperte die Schere und sie plauderten über das kommende Frühjahr. Ruck zuck waren die Haare ab. Er föhnte sie kurz, knetete einen weißen Schaum hinein und fertig war die Braut.
Er holte den Handspiegel und ließ sie ihren neuen Kopf bewundern.
Sie sah fremd aus!
Und sie dachte wie immer: „ Das bin Ich!“